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WCC general secretary at the meeting

Während des Besuchs des Ökumenischen Rates der Kirchen in Armenien vom 18.–22. September haben sich ÖRK-Generalsekretär Pastor Prof. Dr. Jerry Pillay und die ÖRK-Delegation mit Seiner Heiligkeit Karekin II., Höchster Patriarch und Katholikos aller Armenier, getroffen, Foto: Grigor Yepremyan/Muttergotteskirche des Heiligen Etschmiadsin

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Welches Ziel verfolgt die ÖRK-Delegation in Armenien?

Dr. Pillay: Mit diesem Besuch wollten wir unsere Solidarität mit dem armenischen Volk und besonders mit unserer Mitgliedskirche hier zum Ausdruck bringen, und das haben wir getan.

Das zweite Ziel besteht darin, uns selbst ein Bild von der tatsächlichen Lage im Land zu machen, denn Menschen beurteilen und interpretieren eine Situation oft aus ihrer eigenen persönlichen Sicht, deshalb wollten wir uns selbst vergewissern und sehen, was dort passiert.

Das dritte Ziel dieses Besuchs besteht darin herauszufinden, welchen konstruktiven Beitrag der Ökumenische Rat der Kirchen selbst leisten kann. Das gilt besonders für die Suche nach friedlichen Lösungen der aktuellen Probleme, die wir in diesem Zusammenhang erleben. Von besonderem Interesse war für uns deshalb von Anfang an der Latschin-Korridor, um selbst einen Überblick zu bekommen, mit Menschen zu sprechen und uns selbst über die Fakten vor Ort zu informieren. Leider wurden diese Pläne durchkreuzt, denn gestern begann unmittelbar vor Beginn unserer Fahrt der Angriff Aserbaidschans auf Bergkarabach, und das war ein massiver Angriff.

Mir wurde erzählt, dass 25 Menschen ums Leben gekommen sind und weitere 80 verletzt wurden. Es gibt einige Fotos und Videoaufnahmen von den Zerstörungen, die gestern durch diesen Angriff verursacht worden sind.

Was genau haben Sie gesehen?

Dr. Pillay: Wir waren selbst auf der Brücke, nur etwa 20 Kilometer von Latschin entfernt. Von dort aus wurde uns die Weiterfahrt untersagt, denn die Soldaten waren sehr um unsere Sicherheit besorgt. Wir konnten auf diese Weise gut nachvollziehen, was die Menschen in so einer Situation erleiden. Wir haben die Furcht und die Ängste der Menschen angesichts der Ungewissheit erlebt, was mit ihnen geschieht. Wir haben uns ebenfalls ein Bild von der Lage im Latschin-Korridor machen können, und wir können nur bestätigen, dass der Korridor de facto geschlossen und blockiert ist.

Die Menschen können sich dort nicht frei bewegen. Zum Glück konnten am Vortag zwei Lastwagen vom Internationalen Roten Kreuz Hilfsgüter verteilen, was für die Menschen vor Ort hilfreich war. Am Tag darauf begannen jedoch die Angriffe. Die Situation ist deshalb sehr angespannt, und definitiv haben die Menschen nur noch einen eingeschränkten Zugang. Es fehlt ihnen an den wichtigsten Gütern.

Das ist die reale, konkrete Situation dort.

Der Angriff spricht natürlich für sich selbst.

Haben Sie mit der Regierung von Aserbaidschan gesprochen?

Dr. Pillay: Anlässlich dieser Reise haben wir uns natürlich auch an Regierungsmitglieder Aserbaidschans gewandt und um ein Treffen und die Möglichkeit gebeten, auch mit ihnen über die Situation zu sprechen. Leider haben sie diese Bitte abgelehnt und erklärt, dies sei im Moment nicht möglich. Es gebe aber die Bereitschaft, unserem Wunsch zu einem späteren Zeitpunkt zu entsprechen.

Ich kann mir natürlich vorstellen, dass sie gegenüber dem ÖRK einige Vorbehalte haben und sie tendenziell der Meinung sind, dass wir nicht objektiv berichten.

Wir haben gesehen, unter welcher Anspannung die Menschen dort leben, und wir haben selbst erlebt, wie die Wirklichkeit des armenischen Volkes aussieht und welche Ängste die Bevölkerung tagtäglich erlebt.

Was kann der Ökumenische Rat der Kirchen in dieser Situation tun oder sagen?

Dr. Pillay: Wir fordern die Konfliktparteien auf, die Waffen niederzulegen. In einer Erklärung, die letzte Nacht veröffentlicht wurde, haben wir die sofortige Einstellung dieser Angriffe gefordert. Wir ersuchen die politische Führung nachdrücklich, sich zusammenzusetzen und über friedliche Lösungen zu sprechen, und wir hoffen, dass die beteiligten Regierungen dies sehr ernst nehmen. Das ist Teil des Problems: Die Menschen sind nicht bereit, miteinander zu reden und Lösungen zu finden. Stattdessen sind sie eher bereit, Gewalt anzuwenden und unschuldige Menschen zu töten.

Wir können wir einen Ausweg aus dieser Situation finden?

Dr. Pillay: Der ÖRK versucht diesen politischen Führungskräften zu sagen, dass es ihnen um die normalen Bürgerinnen und Bürger gehen sollte. Dass es um humanitäre Hilfe und Unterstützung gehen sollte. Dass sie bedenken sollten, welche Verwüstungen ein Krieg verursacht. Und dass sie die Tatsache nicht außer Acht lassen sollten, dass jeder Krieg eine friedliche Lösung finden muss – warum also nicht bereits jetzt darauf hinarbeiten, statt auf einen Zeitpunkt in der Zukunft zu warten, wenn die Schäden unermesslich sein werden? Das ist unser Appell. Wir als Ökumenischer Rat der Kirchen werden in dieser Situation weiterhin prophetisch bleiben und uns für Gerechtigkeit aussprechen. Diesem Grundsatz folgen wir immer, denn wir sind keine Politiker. Unsere Aufgabe besteht darin, auf Ungerechtigkeiten hinzuweisen, denn diese betreffen und quälen Menschen jeden Tag.

Der ÖRK kann Einfluss nehmen, und wir hoffen inständig, dass die Welt sehen wird, was wir gesehen haben, und dass wir das Erlebte weitergeben können.

 

Der Konflikt in Bergkarabach bricht heute erneut aus, während sich eine ÖRK-Delegation dem Latschin-Korridor nähert  (ÖRK-Pressemitteilung vom 19. September 2023)

ÖRK-Delegation in Armenien wird Zeuge der Blockade humanitärer Hilfe im Latschin-Korridor (ÖRK-Pressemitteilung vom 19. September 2023) (in englischer Sprache)

Ökumenische Delegation besucht Armenien (ÖRK-Fotoreportage, 19. September 2023)

WCC Delegation plant Besuch in Armenien (ÖRK-Pressemitteilung vom 15. September 2023) (in englischer Sprache)

In einem gemeinsamen Schreiben an die Europäische Union fordern der ÖRK und die Konferenz Europäischer Kirchen die Aufhebung der Blockade in Bergkarabach (ÖRK-Pressemitteilung vom 4. August 2023)  (in englischer Sprache)

Fotos des ÖRK-Besuchs in Armenien