Heute vor genau einem Jahr, am 7. Oktober 2023, führte die Hamas im Süden Israels einen brutalen Überfall aus, der Auslöser für die weitere Eskalation und Ausweitung des Konflikts in der Region seither sein würde. 

Bei dem Überfall wurden zahlreiche Gräueltaten unter vollkommener Missachtung der grundlegenden Prinzipien des Völkerrechts und der Sittlichkeit verübt; rund 1.200 Menschen – darunter viele junge Besucherinnen und Besucher eines Musikfestivals sowie Kinder, Frauen und ältere Menschen in verschiedenen zivilen Gemeinwesen in der Region – wurden getötet und 251 weitere als Geiseln genommen, von denen 97 auch ein Jahr später noch immer festgehalten werden. Auch wenn sich der ÖRK der langen Vorgeschichte der Besatzung und Unterdrückung vor dem Überfall bewusst ist, hat er den Überfall auf unschuldige israelische Zivilpersonen verurteilt.

Die gewaltigen Dimensionen des nachfolgenden Kriegs von Israel im Gazastreifen sind erschütternd und nicht hinnehmbar. Er hat die Rechtsverletzungen und das Leid, die bzw. das der unschuldigen Zivilbevölkerung zugefügt wurde, exponentiell verstärkt, da nach Angaben der Gesundheitsbehörden in der Enklave bis heute mehr als 41.700 Menschen – darunter mehr als 16.000 Kinder – getötet und weitere 100.000 Menschen verletzt wurden und mehr als 10.000 vermisst werden und vermutlich tot irgendwo unter den Trümmern begraben liegen. Rund 1,9 Millionen Menschen – 90 Prozent der Bevölkerung im Gazastreifen – sind mit Gewalt aus ihren Häusern und Wohnungen vertrieben worden, viele von ihnen sogar mehrfach, und fast eine halbe Million Menschen sind von katastrophaler Nahrungsmittelunsicherheit betroffen, während auch die kritische Infrastruktur im Gazastreifen, die medizinische Versorgung der Menschen, das Bildungswesen, der Wohnraum, die Wirtschaft, die landwirtschaftlich genutzten Flächen und die Fischfangflotte fast komplett verwüstet und zerstört wurden. Israels Krieg im Gazastreifen hat das Gebiet unbewohnbar gemacht und den Vorwurf eines Völkermords aufkommen lassen, der vom Internationalen Gerichtshof als plausibel eingestuft wurde.

Darüber hinaus haben die gewaltsamen Angriffe und anderen Rechtsverletzungen von illegalen Siedlerinnen und Siedlern und israelischen Sicherheitskräften auf palästinensische Gemeinwesen im besetzten Westjordanland und Ostjerusalem in dieser Zeit stark zugenommen. Auch die Drohungen und Angriffe auf christliche Gemeinden, Geistliche, Kirchen und Institutionen durch extremistische Teile der israelischen Gesellschaft sind, unter anderem, sprunghaft angestiegen und das in den meisten Fällen ohne strafrechtliche Folgen.

Israels Krieg im Gazastreifen und die damit verbundenen Verletzungen der Souveränität von benachbarten Ländern hat zudem die Spannungen in der Region insgesamt deutlich verschärft, was zu verstärkten militärischen Auseinandersetzungen an verschiedenen Fronten, vermehrten gegenseitigen Angriffen mit der Hisbollah im Libanon, den Huthis im Jemen und zum ersten Mal auch direkt mit dem Iran geführt hat. Dadurch steigt die Zahl der Todesopfer, das Ausmaß der Zerstörung und das Ausmaß der Vertreibung für immer mehr Menschen in der gesamten Region. Im Libanon ist die Zahl der Todesopfer durch die seit zwei Wochen anhaltenden Angriffe Israels auf Beirut, Bekaa und den Süden des Landes Schätzungen zufolge bereits auf mehr als 2.000 gestiegen und mehr als eine Million Menschen mussten aus ihren Wohnungen und Häusern fliehen. Israels Einmarsch in den Südlibanon mit Bodentruppen und die Raketenangriffe und anderen Kriegshandlungen zwischen Iran und Israel drohen sich zu einem noch größeren Konflikt auszuwachsen und den gesamten Nahen Osten in Brand zu stecken, und die bereits bestehende Bedrohung für den Frieden und die Stabilität in der Welt insgesamt zu verschärfen. 

Ein Jahr nach dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 scheinen Israel und seine Kontrahenten in einer tödlichen Spirale der Gewalt festzustecken, die Tag für Tag mehr Fahrt aufnimmt und droht, die gesamte Region in einen unlösbaren Konflikt mit tiefgreifenden humanitären Auswirkungen und Folgen für die Sicherheit aller Menschen dort zu stürzen. Vor diesem Hintergrund erreichen die schon in der Vergangenheit ernsthaften Bedrohungen für die Präsenz einheimischer christlicher Gemeinschaften im Heiligen Land einen bestandsgefährdenden Kipppunkt.

Wenn uns die jüngere Geschichte im Nahen Osten eine klare Lektion erteilt, dann die, dass sich wiederholende Kreisläufe von bewaffneten Konflikten und anhaltender Besatzung und Unterdrückung keinen Weg zu nachhaltigem Frieden bahnen, sondern nur Feindschaft, Hass und Extremismus auf allen Seiten verstärken. Die einzige Lösung ist, aus der Spirale der Gewalt auszubrechen, Abstand zu nehmen von weiterem Töten und weiterer Zerstörung, und sich auf Dialog und Verhandlungen für einen Frieden einzulassen, der auf Gerechtigkeit und gleichen Rechten für alle Menschen basiert. Israel, Iran und alle anderen Konfliktparteien müssen sich unverzüglich zu einem Waffenstillstand an allen Fronten verpflichten. Die Hamas muss unverzüglich und ohne Bedingungen alle verbliebenen Geiseln freilassen. Israel muss alle palästinensischen politischen Gefangenen freilassen und die Besatzung und Unterdrückung des palästinensischen Volks in den seit 1967 besetzten Territorien zügig beenden und die gleichen Menschenrechte für alle Menschen auf seinem Staatsgebiet unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Herkunft gewährleisten. Und alle Mitglieder der internationalen Staatengemeinschaft müssen ihre Mittäterschaft und Mitschuld an der Fortschreibung des Konflikts, der Besatzung und der Unterdrückung in der Region beenden.

Die Alternative ist eine reale und akute Gefahr für das Leben und die Zukunft aller Menschen in der Region, und eine reale und akute Bedrohung von Gerechtigkeit, Versöhnung und Einheit in unserer fragmentierten und fragilen Welt.

Der Ökumenische Rat der Kirchen ruft seine Mitgliedskirchen und Partner und alle gläubigen Menschen und Menschen guten Willens daher heute auf, für Frieden im Heiligen Land zu beten und einzutreten, allen Menschen, die von der eskalierenden Gewalt in der Region betroffen und bedroht sind, ihre Solidarität auszusprechen und alle diejenigen, die für die Lieferung und den Einsatz von Kriegswaffen verantwortlich sind, dringend aufzufordern, sich von der Gewalt abzuwenden und für Frieden einzusetzen. Wir beten, dass der Wunsch nach Frieden und Gerechtigkeit stärker sein möge als die anhaltende Besessenheit mit Krieg und Gewalt. 

Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ Matthäus 5,9

 

Pastor Prof. Dr. Jerry Pillay
Generalsekretär
Ökumenischer Rat der Kirchen