Einführung

Der Verfasser des Epheserbriefes erklärt, Christus sei gekommen, um den Zaun abzubrechen (Eph 2, 14). Immer wenn wir darüber nachdenken, wie wir mit Behindertenfragen umgehen sollen, tun wir gut daran, an die Mauern zu denken, die wir aufgerichtet haben. Alle diese Mauern sind menschlich verständlich, aber sie widersprechen dem Versöhnungsauftrag; es sind Mauern, die Menschen ein- oder aussperren, Mauern, die Menschen daran hindern, einander zu begegnen und miteinander zu reden. In früheren Zeiten wurden Menschen mit Behinderungen regelrecht hinter Mauern, in geschlossenen Einrichtungen gehalten. Heute sind wir alle Teil der großen Gesellschaft. Laut Schätzungen leben weltweit 600 Millionen Menschen mit Behinderungen. Dennoch werden nach wie vor Menschen isoliert, vor allem, wenn sie behindert sind. Da gibt es die Mauern der Scham, Mauern der Vorurteile, Mauern des Hasses; Mauern der Konkurrenz, Mauern der Angst, Mauern der Ignoranz, Mauern theologischer Vorurteile und kulturellen Unverständnisses. Die Kirche ist berufen, eine inklusive, eine niemanden ausgrenzende Gemeinschaft zu sein - sie soll Mauern niederreißen. Diese vorläufige Erklärung soll dazu einladen, dass wir uns auf den Weg machen, um dieser Berufung gerecht zu werden. Sie wurde von behinderten Menschen, von Eltern und von anderen verfasst, die auf vielfältige Weise am Leben von Behinderten teilhaben.

In der Vergangenheit wurde in Behinderungen ein Verlust, das Zeichen eines unglücklichen Schicksals gesehen. Die Geschichten in den Evangelien, in denen darüber berichtet wird, wie Jesus Menschen von verschiedenen Krankheiten und Behinderungen heilte, wurden in der Überlieferung als Befreiungstaten interpretiert, als Geschichten darüber, wie Menschen Chancen für ein reicheres Leben eröffnet werden. Seitdem haben Kirchen häufig mit der Frage gerungen, wie sie dem Dienst für, an und mit Menschen mit Behinderungen am besten gerecht werden können.

Auch die ökumenische Bewegung musste sich mit diesem Problem auseinandersetzen. Nach der Vierten Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen im Jahre 1968 erwies sich das Thema "Die Einheit der Kirche und die Erneuerung der Menschheit" als Möglichkeit, Fragen von Kirche und Gesellschaft aufeinander zu beziehen. Auf jener Vollversammlung und danach gab es intensive Bemühungen, Kirche stärker als inklusive Gemeinschaft zu verstehen. Die Kommission für Glauben und Kirchenverfassung griff die Frage einer größeren Beteiligung behinderter Menschen am Leben der Kirche auf; und diese gewann bei der Tagung der Kommission im Jahre 1971 in Löwen an Gewicht. Dieser erste Versuch, sich der Lage der Menschen mit Behinderungen anzunehmen, bestand in der theologischen Überprüfung des Dienstes an behinderten Menschen im Lichte der Barmherzigkeit Christi.

In der nachfolgenden Zeit bewegte sich die Sorge um Menschen mit Behinderungen von der theologischen Reflexion zu praktischen Fragen der Inklusivität von Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften. Häufig behandelte diese Reflexion und Aktion in den Kirchen jedoch "Menschen mit sozialen Beeinträchtigungen", "Menschen mit anderen Begabungen", "Menschen mit Behinderungen" (alle diese Bezeichnungen sollten die Reflexion über die Inklusivität befördern, und eine löste die andere ab) eher als Objekte denn als Subjekte der Reflexion. Die Gründung von EDAN (Netzwerk der ökumenischen Anwaltschaft für behinderte Menschen) bei der ÖRK-Vollversammlung 1998 und seine Eingliederung in die ÖRK-Strukturen im Rahmen des JPC-Teams ist als Hoffnungszeichen im Bewusstwerdungsprozess christlicher Kirchen und Institutionen zu werten, weil Menschen mit Behinderungen jetzt zu Subjekten/Akteuren der Reflexion/Aktion geworden sind. EDAN ist in den acht Weltregionen tätig und dient als Netzwerk für die Begegnung und Unterstützung behinderter Menschen, die sich mit den spezifischen Problemen und Herausforderungen in ihrem jeweiligen Umfeld auseinandersetzen.

In einer Reihe von Kirchen wird man sich indessen zunehmend bewusst, dass Menschen mit Behinderungen eine Aufforderung an die Kirche sind, neu über das Verständnis des Evangeliums und das Wesen der Kirche nachzudenken. Das zeigte sich in einer ersten vorläufigen Erklärung, die dem Zentralausschuss des ÖRK im Jahre 1997 vorgelegt und in der versucht wurde, die theologische Reflexion über diese Problematik aufzunehmen und die Kirchen zu bewegen, offenere und inklusivere Gemeinschaften zu werden. Diese neue vorläufige Erklärung, an der die Kommission für Glauben und Kirchenverfassung mitgewirkt hat, ist somit eine weitere Etappe auf dem Weg, aber noch nicht das Ziel. Sie ist nicht umfassend, sondern bietet Richtpunkte und Erkenntnisse zu wichtigen theologischen Themen. Wir hoffen, damit den Kirchen helfen zu können, sich an der Debatte über Behinderungen zu beteiligen und Fragen der Inklusivität, der aktiven Mitwirkung und des uneingeschränkten Engagements im spirituellen und sozialen Leben der Kirche im Besonderen und der Gesellschaft im Allgemeinen anzusprechen.

Menschen mit Behinderungen - Gemeinsamkeiten und Unterschiede

1. "Die Behinderten" haben hart darum gerungen, als "behinderte Menschen" anerkannt zu werden. Dieser Kampf hat sich aus zwei Gründen gelohnt. Denn zum einen waren behinderte Menschen im Verlauf der Geschichte entpersonalisiert und als Problem angesehen worden, mit dem man sich auseinandersetzen muss. Zum anderen wurden sie häufig als homogene Gruppe verstanden, deren individuelle Unterschiede unbeachtlich sind. In diesem Abschnitt geht es darum, wer wir sind, welche Erfahrungen wir miteinander teilen. Es ist uns wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass wir ebenso wie alle anderen Gruppen der Gesellschaft sehr verschieden voneinander sind und Unterschiedliches erlebt haben. Wir möchten zugleich einen denkbaren Rahmen abstecken, der behinderten Menschen und den Kirchen helfen kann, eine gemeinsame Grundlage für ihre Untersuchungen zu finden.

2. Wahrscheinlich stoßen wir mit unseren Erfahrungen - mit der Art, wie wir uns bewegen, wie wir empfinden, wie wir denken und wahrnehmen - alle an Grenzen. Aufgrund unserer Beeinträchtigungen und der daraus folgenden Behinderungen werden wir durch Einstellungen, Handlungsweisen oder Schranken in der Gesellschaft an den Rand gedrängt. In vielen Gesellschaften schließen sich Menschen mit Behinderungen zu mächtigen Interessengruppen zusammen, um sich gegen diese Marginalisierung zu wehren und für die Rechte und Unabhängigkeit behinderter Menschen - auch von ihren Betreuern in der Familie - einzutreten. Dabei ist es die schwierigste Aufgabe für viele Betreuer1, auch dann noch Sprachrohr derjenigen sein zu sollen, die sich nicht artikulieren können, wenn ihre Pflegebefohlenen so schwer und vielfältig behindert sind, dass sie in ihrer Sprachlosigkeit nur in einer innigen, liebevollen Beziehung zu verstehen sind.

3. Die moderne Gesellschaft hat viele Risiken mit sich gebracht; ohne Zweifel trägt die gesamte Menschheit die Verantwortung für Schädigungen, die beispielsweise von Landminen oder durch missbräuchlichen Umgang mit Substanzen verursacht werden; für manche Behinderungen gibt es jedoch auch weiterhin keine Erklärung.

4. Die meisten behinderten Menschen sind wirtschaftlich rechtlos und müssen in ihrem Lebensstandard oder in ihren Beschäftigungsmöglichkeiten Verluste hinnehmen. Die Betreuer müssen erhebliche Opfer bringen und viel Zeit und Mittel aufwenden; dadurch werden ihre Möglichkeiten eingeschränkt, auch anderen Tätigkeiten oder Berufen nachzugehen. Mit dem weltweiten Protest gegen die wirtschaftliche Entrechtung behinderter Menschen und ihrer Betreuer kann man jedoch der Relativität von Armut in Gesellschaften und Staaten in keiner Weise gerecht werden. Es darf nicht übersehen werden, dass zwischen der materiellen Lage eines behinderten Menschen in der nördlichen und einem nichtbehinderten Menschen in der südlichen Wirtschaftssphäre ein erhebliches Gefälle besteht - möglicherweise ist der behinderte Mensch im Norden besser gestellt als der nichtbehinderte im Süden. Hier werden die Existenzgrundlagen und die Wirklichkeit deutlich, in der die überwältigende Mehrheit von Menschen mit Behinderungen und ihren Familien heute leben muss.

5. Behinderungen können nicht nur wirtschaftliche Rechtlosigkeit, sondern auch die Verarmung von Beziehungen und den Verlust von Chancen zur Folge haben. Menschen mit Behinderungen sind häufig das Opfer diskriminierender Tendenzen in der Gesellschaft. Eine marktwirtschaftlich ausgerichtete Gesellschaft fördert Abtreibungen und lässt zu, dass Neugeborene sterben. In vielen Ländern vermittelt die systematische Abtreibung von Föten mit bestimmten Missbildungen und mit dem Down-Syndrom ein äußerst negatives Signal für die Einstellung der Gesellschaft zu Behinderungen. Ein solches marktwirtschaftliches Denken institutionalisiert und reduziert für die Mehrheit der Weltbevölkerung den Zugang zu angemessener ärztlicher Versorgung. Behinderte Menschen werden anfällig für kommerzielle Werbemethoden und für religiöse Gruppen, die im Rahmen oberflächlicher Akzeptanz und Freundschaft Wunderheilungen anbieten.

6. Keine gesellschaftliche Gruppe ähnelt der anderen; und davon sind auch behinderte Menschen nicht ausgenommen. Wir kommen aus ganz unterschiedlichen Kulturen und erfahren ganz unterschiedliche Formen und Standards der medizinischen Versorgung sowie unterschiedliche Einstellungen in der Gesellschaft. Die Anerkennung unserer Behinderungen haben wir auf unterschiedlichen Wegen erreicht. Manche von uns sind auf Grund von angeborenen Defekten oder durch das Geburtstrauma seit ihrer Geburt behindert, andere dagegen haben Unfälle erlitten, oder ihre Behinderungen sind erst später in ihrem Leben eingetreten. Jeder und jede Einzelne von uns hat um die Anerkennung der Behinderung gekämpft; dabei haben wir erfahren, dass die Qualität der medizinischen Versorgung, die Bildung, die uns zuteil geworden ist, oder auch die Einstellung von Menschen, die unser Leben oder unser spirituelles Befinden begleitet haben, uns geholfen oder daran gehindert haben, unsere Behinderung anzunehmen. Manche kulturellen Bedingungen des Umgangs mit Behinderungen, beispielsweise die Einzigartigkeit der Zeichensprache oder ein bestimmtes politisches Verständnis unseres Minderheitsstatus haben uns dabei unterstützt. Wir legen Wert auf die Feststellung, dass unsere Unterschiedlichkeit einen Teil des Reichtums ausmacht, den behinderte Menschen als Gruppe ihr Eigen nennen, und wir sind froh darüber.

7. Behinderte Menschen, die den christlichen Glauben miteinander teilen, verbindet ihr Wissen um Gottes Liebe und Jesu Erbarmen mit kranken und behinderten Menschen; sie finden Kraft in der Obhut Christi. Viele halten jedoch die Lehre der Kirche im Blick auf diese Wahrheit für zu eng gefasst und bemühen sich, zu einem eigenen Verständnis zu gelangen. Die mögliche Lebenserwartung jedes und jeder Einzelnen und die eigenen Glaubenserfahrungen haben Einfluss darauf, wie sie ihre Behinderungen annehmen können. Sie bedienen sich bestimmter theologische Hilfsmittel, um ihr existentielles Bedürfnis zu stillen, das Geheimnis und das Paradox von Liebe und Leid zu deuten, die in ihrem Leben nebeneinander existieren und ihm seinen Sinn geben.

8. Wir bezeugen, dass Gott alle behinderten Menschen liebt und allen die Chance gibt, diese Liebe zu entgegnen. Wir glauben, dass jede und jeder behinderte Mensch Frieden mit Gott finden kann.

9. 1. Mose 32, 25-27

      25 Jakob blieb allein zurück. 25a Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach.26 Und als er sah, dass er ihn nicht übermochte, schlug er ihn auf das Gelenk seiner Hüfte, und das Gelenk der Hüfte Jakobs wurde über dem Ringen mit ihm verrenkt. 27 Und er sprach: "Lass mich gehen, denn die Morgenröte bricht an. Aber Jakob antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn."

10. In unserem Ringen mit Gott stellen wir als behinderte Menschen dieselben Grundfragen, doch dürfte die damit verbundene theologische Auseinandersetzung sehr vielschichtig sein. Warum trifft es gerade mich oder die Menschen, die mir nahe stehen? Hat meine Behinderung einen Sinn? Die Antworten auf solche Fragen können auch von der zu erwartenden Dauer einer Behinderung beeinflusst werden und von der Zeit und den Umständen ihrer Entstehung. Die Annahme oder Nichtannahme einer behindernden Schädigung wird auch von der zu erwartenden Lebensdauer und Lebensqualität beeinflusst.

11. Wir haben mit Gott geistig und körperlich um diesen Frieden gerungen; manche von uns haben das Privileg, intellektuell begabt zu sein, und können sich schriftlich mit dem Problem auseinandersetzen; anderen wurde die Gnade zuteil, denen, die so liebevoll für sie sorgen, Liebe und Zuneigung entgegenzubringen. Wenn es so vielen behinderten Menschen gelingt, mit Gott zurecht zu kommen, dann muss die Kirche doch einen Weg finden, die Gaben anzunehmen, die wir zu bieten haben. Wir dürfen nicht auf halbem Wege stehen bleiben, sondern müssen zu vollständiger Annahme finden.

Hermeneutische Fragestellungen

12. Wie können wir theologisch deuten, dass manche Menschen mit Behinderungen leben? Was sagt uns das über menschliches Leben in Gottes Welt? Von der Philosophie und Theologie des 20. Jahrhunderts haben wir gelernt, dass wir geschichtliche Wesen sind und unsere Deutungen immer aus der Geschichte heraus geschehen. Unsere Erkenntnis der Wirklichkeit ist immer endlich, weil wir endliche Wesen sind. Wenn wir das Phänomen der menschlichen Behinderungen deuten wollen, dann müssen wir akzeptieren, dass die Geschichte unsere Deutung verändert hat und verändern wird. Unter Geschichte können wir die Geschichte einzelner Menschen oder die sich wandelnden Wahrnehmungen der Gemeinschaft verstehen, in der Menschen mit Behinderungen leben.

13. Es ist bereits gesagt worden, dass Behinderungen herkömmlich als Verlust angesehen worden sind, als ein Unglück, das Menschen zustoßen kann. Die Geschichten in den Evangelien, in denen berichtet wird, wie Jesus Krankheiten und Behinderungen geheilt hat, werden traditionell als Befreiung und Befähigung zu einem reicherem Leben gedeutet.

14. In diesem Sinne gelten Menschen mit Behinderungen als Schwache, die der Fürsorge bedürfen. So werden sie zu Objekten der Nächstenliebe, zu Menschen, die empfangen, was andere geben. Deshalb können Menschen mit Behinderungen anderen Menschen in der Kirche nicht gleichberechtigt begegnen. In gewisser Weise werden sie als nicht vollständig menschlich angesehen.

15. Diese Auffassung hat die Kirche mit unterschiedlichen theologischen Argumenten gestützt. So wurde eine Behinderung beispielsweise als Strafe für Sünden erklärt, die von den Menschen mit Behinderungen selbst oder in früheren Generationen von ihren Angehörigen begangen worden sind. Behinderungen wurden aber auch als Zeichen mangelnden Glaubens verstanden, der Gott daran hindert, sein Heilungswunder zu vollbringen. Eine Behinderung konnte ferner ein Zeichen dämonischen Wirkens sein, zu dessen Überwindung Teufel ausgetrieben werden mussten. Solche Interpretationen haben in den Kirchen zur Unterdrückung von Menschen mit Behinderungen geführt. Hier sind die Einstellungen der Kirchen ein Spiegel der Einstellungen in der Gesellschaft insgesamt gewesen. Unterdrückerische Strukturen in Gesellschaften und Kirchen haben sich gegenseitig gefestigt.

16. Wenn sich in der Gesellschaft ein neues Verständnis von Behinderungen entwickelt hat, dann ist auch in den Kirchen und in der ökumenischen Bewegung ein neues Denken entstanden. Allerdings haben in dieser Frage nicht die Kirchen die führende Rolle eingenommen. Obwohl in der Bibel Anregungen für einen solchen Ansatz zu finden sind, waren die Kirchen keine prophetische Stimme gegen Unterdrückung. Vielmehr sind die Kirchen im Allgemeinen - und häufig mit großer Zurückhaltung - den gesellschaftlichen Tendenzen hinterhergehinkt. Häufig haben konservative Strukturen in den Kirchen, die oft auch in kirchlichen karitativen Einrichtungen anzutreffen sind, die alten Auffassungen von Behinderung gefestigt. Theologische Vorstellungen, die beispielsweise einen Zusammenhang zwischen Behinderung und göttlicher Strafe für Sünden herstellen, sind noch in allen Teilen der Welt anzutreffen; behinderte Menschen werden einer "seelsorgerlichen Behandlung" unterzogen, um die angeblichen Ursachen ihrer "Strafe" zu bearbeiten.

17. Wenn in der Gesellschaft ein neues Verständnis von Behinderung entsteht, dann werden traditionelle theologische Interpretationen in Frage gestellt. In einigen Kirchen hat das zu der Einsicht geführt, dass Menschen mit Behinderungen bislang nicht als gleichberechtigt angesehen wurden. In vielen Kirchen erkannte man, dass der traditionelle Umgang mit behinderten Menschen unterdrückend und diskriminierend gewesen ist; so wechselte das Engagement für Menschen mit Behinderungen von der Wohltätigkeit zur Anerkennung ihrer Menschenrechte. Veränderte Einstellungen haben neue Fragen aufgeworfen und neue Deutungen hervorgebracht. Allmählich ist deutlich geworden, dass Menschen mit Behinderungen über Erfahrungen verfügen, die die Kirchen bereichern können. Im Streben nach Einheit und einer integrativen Kirche wird anerkannt, dass Menschen mit Behinderungen in das Leben und Zeugnis der Kirchen einbezogen werden müssen. Allerdings hat man in diesem Zusammenhang dann häufig auf die Aussagen über die Schwachen verwiesen, von denen im Neuen Testament, vor allem in den beiden Korintherbriefen, die Rede ist.

18. Doch auch diese Erkenntnis ist in Frage gestellt worden. Ist eine Behinderung wirklich ein Zeichen für "Schwäche" im menschlichen Leben? Ist nicht das schon eine einengende, niederdrückende Interpretation? Müssen wir nicht noch einen riesigen Schritt weitergehen? Ist eine Behinderung wirklich nur etwas Einengendes? Ist das Wort "Verlust" zur Beschreibung von Behinderung überhaupt angemessen, obwohl schon das eine Etappe auf dem Wege ist, den Menschen mit ihrer Behinderung gehen? Sollten wir nicht eher von Pluralität sprechen? Bedeutet, mit einer Behinderung leben, nicht mit anderen Gaben und Einschränkungen leben als andere Menschen? Alle Menschen leben mit Einschränkungen. Hat Gott Behinderung nicht um einer pluralen - und damit reicheren - Welt willen geschaffen? Ist eine Behinderung nicht eher eine Gabe Gottes als eine Einschränkung, mit der manche Menschen leben müssen?

19. Solche Fragen müssen ernst genommen werden, wenn wir uns um ein neues theologisches Verständnis von Behinderungen bemühen. Diese vorläufige Erklärung ist Teil eines kontinuierlichen Prozesses. Wir werden niemals zu dem Punkt gelangen, an dem wir "das" theologische Verständnis gefunden haben. Wir müssen der Tatsache Rechnung tragen, dass wir morgen eine andere theologische Sicht haben werden als heute. Die wichtigste Aufgabe einer vorläufigen Erklärung besteht nicht darin, anderen die einzig denkbare Deutung der Behinderung aufzudrängen, sondern uns in ein kontinuierliches Gespräch zu führen. Der Prozess selbst ist wichtig. Er kann ebenso wie für Menschen mit Behinderungen auch für die Kirchen befreiend sein.

20. Eine Behinderung ist eine menschliche Befindlichkeit und als solche nicht eindeutig definierbar. Menschsein bedeutet, ein Leben führen, das von der guten Gabe der göttlichen Schöpfung, aber auch von der Gebrochenheit geprägt ist, die zum menschlichen Leben dazugehört. In Behinderungen erfahren wir diese beiden "Seiten" des menschlichen Lebens. Wenn wir Behinderungen aus einer dieser Perspektiven allein definieren wollen, leugnen wir die Uneindeutigkeit des Lebens und spalten unser Verständnis von Behinderung in ontologischem Sinne künstlich in seinem Kern auf.

21. Wir müssen unterschiedliche und einander widersprechende Interpretationen nebeneinander stehen und sich gegenseitig in Frage stellen und korrigieren lassen. Wir sollten nicht versuchen, eine Synthese aus ihnen herzustellen, die den Konflikt zwischen den unterschiedlichen Interpretationen aufhebt. Vielmehr sollten wir die Spannung zwischen ihnen aushalten, denn sie hält den Prozess in Gang.

Imago Dei

22. In der Geschichte der christlichen Theologie wurde der Gedanke, dass die Menschen nach dem Ebenbild Gottes geschaffen sind, so verstanden, als ginge es dabei um den Geist oder die Seele, während der leibliche (körperliche oder physische) Aspekt des Menschseins die körperlose, spirituelle Wirklichkeit des transzendenten Gottes kaum wiedergeben könnte. Wir sollten die radikale Abwendung vom Götzendienst, von der Anbetung von Götzenbildern im frühen Christentum nicht unterschätzen: Der unsichtbare Gott sollte nicht in tierischer oder menschlicher Gestalt abgebildet werden. Doch die Verwandtschaft, die zwischen unserem Denken und dem Sinnen Gottes (oder des Logos) gesehen wurde, legte zusammen mit der Lehre von der Analogie der Menschwerdung des Logos Gottes in Christus und der Verkörperung der (unsterblichen) Seele/Vernunft im Menschen den Gedanken nahe, die Erschaffung des Menschen nach dem Ebenbild Gottes vor allem verstandesmäßig zu interpretieren.

23. Diese Tendenz hat möglicherweise intelligenten Menschen mit körperlichen Behinderungen gelegentlich Akzeptanz verschafft: z. B. erhielt Didymos der Blinde (Alexandria, 4. Jahrh.) den Beinamen Didymos der Seher, denn er sah viel besser als Menschen mit intaktem physischem Sehvermögen. Sie hat auch eine positive (wenn auch etwas herablassende) Einstellung zu Menschen mit schweren und vielfältigen Behinderungen gefördert, weil "man doch sehen kann, wie die Seele aus ihren Augen spricht". Dies aber ist eine zutiefst elitäre und dualistische Vorstellung vom Wesen des Menschen. Sie führt letztlich zur Ausgrenzung derjenigen, deren geistige oder körperliche Unfähigkeit ihre gesamte Persönlichkeit und Existenz tiefgreifend beeinträchtigt.

24. In jüngerer Zeit ist der Gedanke, dass die Menschen nach dem Bilde Gottes geschaffen sind, so verstanden worden, als wäre jeder und jede Einzelne von uns nach dem Bilde Gottes geschaffen und verdiene deshalb gleichen Respekt. Das entspricht den modernen Menschenrechtsideologien und ermutigt Menschen dazu, ihr Recht auf eine menschenwürdige Behandlung in der Gesellschaft und auf Anerkennung der jedem Menschen innewohnenden Würde ohne Unterschied der Rasse, der Religion oder der Behinderung einzufordern.

25. Diese Tendenz hat positive Auswirkungen gehabt, indem sie Menschen Achtung verschafft hat, die nicht weiß, nicht männlich, nicht frei von Behinderungen und nicht klug sind. Aber sie verstärkte auch das Vorurteil, dass wir eigentlich alle vollkommen sein müssten, weil wir doch nach dem Bilde Gottes geschaffen sind. Hier zeigt sich die Problematik des offenkundigen Mangels an begrifflicher Klarheit. Wie kann ein Mensch, der augenscheinlich körperliche oder geistige Defizite hat, nach Gottes Ebenbild geschaffen sein? Der modernistische Ansatz, der von den Menschenrechten ausgeht, mag zwar Einstellungen traditioneller Gesellschaften der Vergangenheit in Frage stellen, doch befördern die erfolgsorientierten Wertvorstellungen des modernen Individualismus eine Deutung des Ebenbildes Gottes, die, wie wir meinen, die Kernelemente christlicher Theologie außer Acht lässt.

26. Der Satz, mit dem wir uns hier beschäftigen, steht in der Schöpfungsgeschichte; er schildert die Erschaffung Adams. In diesem Zusammenhang verdienen zwei wichtige Punkte Aufmerksamkeit: zum einen steht Adam für das gesamte Menschengeschlecht. Der Name Adam bezeichnet den männlichen Teil der Menschheit im generischen Sinn, die Erschaffung Evas aus der Rippe die Geschlechterdifferenzierung zwischen den Menschen. Zweitens wurde Adam zwar nach dem Bilde Gottes und ihm ähnlich geschaffen, die Ebenbildlichkeit wurde jedoch durch seinen Ungehorsam - den Sündenfall - entstellt. Manche Theologen der Frühzeit nahmen an, dass das Ebenbild erhalten geblieben, die Ähnlichkeit aber verloren gegangen sei. Wichtig ist hier, dass wir dem glatten theologischen Diskurs von der Ebenbildlichkeit des Menschen mit Gott diekollektive Natur jenes Ebenbildes entgegenhalten und die Tatsache, dass alle des Ruhmes (der Ebenbildlichkeit) Gottes unwürdig sind (Röm. 3, 23).

27. Für die christliche Gemeinschaft finden diese Gedanken zu 1. Mose 1 im Neuen Testament ihre Bestätigung. Die Lektüre der Paulusbriefe macht sehr schnell deutlich, dass die Dynamik des Heils auf der Parallele zwischen Adam und Christus beruht. Adam ist der "alte Mensch", Christus der "neue Mensch" (Eph 4, 22-24; 2. Kor 5,17), und wir alle (Männer und Frauen) sind in Adam und potentiell auch in Christus (Röm 5, 12-21; 1. Kor 15, 22). Beide sind in gewissem Sinne Gestalten aus Fleisch und Blut. In Christus sind wir eine neue Schöpfung; wie in Adam alle sterben werden, so werden in Christus alle das Leben haben. Christus ist gewissermaßen allein das wahre Ebenbild Gottes - das Ebenbild Gottes in Adam (die alte Menschheit) wurde entstellt. So sind wir Gottes Ebenbild, weil wir in Christus sind.

28. Wenn Christus das wahre Ebenbild Gottes ist, dann muss grundsätzlich nach dem Wesen Gottes, der sich in dem Ebenbild widerspiegelt, gefragt werden. Kernstück christlicher Theologie ist Kritik an Erfolg, Macht und Perfektion, ist Achtung vor Schwachheit, Gebrochenheit und Verletzlichkeit.

29. In Christus sein bedeutet, im Leib Christi sein. Das ist seinem Wesen nach das Bild eines Kollektivs - ein Leib besteht aus vielen Gliedern, von denen alle einen spezifischen Beitrag zum Ganzen leisten (1. Kor 12; Röm 12). Auch die schwachen Glieder, ja auch diejenigen Teile, deren wir uns schämen und die wir bedecken (siehe 1. Kor. 12, 23 in der griechischen Fassung), sind unverzichtbar und verdienen besondere Achtung, ihr wesentlicher Beitrag wird anerkannt. Und es ist ein materielles Bild - die materielle Wirklichkeit ist, dass Christus an seinem Leib misshandelt, verkrüppelt und getötet wurde. Bestimmte Aspekte des Ebenbildes Gottes in Christus sind in der Kirche als dem Leib Christi nur durch die volle Integration und Anerkennung derjenigen denkbar, die ähnliche Verletzungen an ihrem Leib erfahren haben.

30. Daraus folgern wir:

  • Christliche Theologie muss das imago dei aus christologischer und soteriologischer (das Erlösungswerk Christi für die Welt betreffender) Sicht interpretieren, die über die herkömmliche Schöpfungstheologie und Anthropologie hinausweist.
  • Christliche Theologie braucht als Paradigma für das Verständnis des imago Dei ein nicht elitäres, inklusives Verständnis des Leibes Christi.
  • Ohne die uneingeschränkte Integration von Menschen, die aufgrund ihres Lebens mit Behinderungen beitragen können, ermangelt es der Kirche des Ruhmes Gottes und kann sie nicht für sich in Anspruch nehmen, Ebenbild Gottes zu sein.
  • Ohne die Erkenntnisse derer, die aufgrund ihres Lebens mit Behinderungen beitragen können, werden die tiefsten, ureigensten Elemente der christlichen Theologie nur zu leicht verfälscht oder sie gehen verloren.

31. "Wenn jemand oder eine Gruppe von uns wegen mangelnder Fähigkeiten ausgegrenzt wird, dann werden wir daran gehindert, die uns von Gott geschenkten Gaben zu nutzen, um den Leib Christi vollkommen zu machen. Lasst uns gemeinsam an dem wunderbaren Mosaik bauen, das Gott im Sinn hat." (Norma Mengel zu geistiger Behinderung)

32. Das Lesen der Bibel als Quelle christlichen theologischen Denkens und als Offenbarung des Heilsplanes Gottes und des Wissens von Gott, dem Schöpfer, führt uns zu der Gewissheit, dass wir einen Gott der Liebe angenommen haben und von ihm angenommen sind. Gott gibt uns den Mut, im Lichte seines Sohnes mit unseren Fehlern, Schmerzen und Behinderungen zu leben. Der Prophet Jesaja weist uns an den Einen, der alle unsere Schmerzen trägt (Jes 53, 4-6). Gott, "der unvoreingenommen ist" (Gal 2, 6: der das Ansehen der Menschen nicht achtet) nimmt alle Menschen in seinen Schoß, Männer und Frauen, gleich welcher körperlichen oder geistigen Befindlichkeit.

Behinderungen und Heilung

33. In der Heiligen Schrift ist jedoch nicht nur die Rede von dem Gott, der sich mit den Schmerzen der Menschen identifiziert, sondern auch von dem, der sich Heilung und Ganzheit zur Aufgabe gemacht hat. Was hat das mit dem beständigen Zeugnis von Menschen mit Behinderungen zu tun? Wir können nicht von dem Zusammenhang von Heilung und Behinderung reden, ohne zuvor zu fragen: Was bedeutet Ebenbild Gottes in Bezug auf Menschen mit einer Behinderung? Wie können Menschen mit Behinderungen Ebenbild Gottes sein, wenn das Ebenbild als "vollkommener Leib" oder als "vollkommener Verstand" beschrieben wird? Was verhält sich unsere theologische Sprache und Praxis zu dem Problem der Behinderung? Inwieweit bestimmt die Sprache der Medizin und der Gesellschaft, die Menschen mit Behinderungen wie Objekte behandelt, die wissenschaftliche Theologie und die allgemeinen Einstellungen zu Menschen mit Behinderungen als Objekten des Mitleids, der Vergebung und der Heilung? Wir wollen wissen, was es bedeutet, dass die Kirche Leib Christi genannt wird. Können Menschen integriert werden, die sichtbare Beschädigungen an sich tragen oder deren Leib von Gehirnlähmungen betroffen ist? Obwohl viele Christen entschieden jeden Zusammenhang zwischen Behinderung und Sünde (zu der auch Leiden gehört) verneinen, lassen doch manche ihrer Einstellungen vermuten, dass sie doch einen solchen Zusammenhang sehen.

34. "Darum, wenn wir von diesem Bilde reden, so reden wir von einem unbekannten Dinge, welches wir nicht allein nie versucht, noch erfahren haben, sondern wir erfahren auch ohne Unterlass das Widerspiel, und hören nichts davon, denn blosse Worte. Denn in Adam ist die Vernunft erleuchtet gewesen mit wahrer Erkenntnis Gottes; dazu ein richtiger und gehorsamer Wille, Gott und den Nächsten zu lieben..." (Luther)2

35. Wenn Menschen mit Behinderungen einer Hermeneutik begegnen, die für Argwohn gegenüber behinderten Menschen Raum lässt, dann ist klar, dass Menschen mit irgendeiner Form von Behinderung das so definierte Bild Gottes nicht akzeptieren können. Beispielsweise werden Menschen mit einer geistigen oder Lernbehinderung als Menschen disqualifiziert, weil sie der Definition des Bildes Gottes als Seele, Vernunft oder Rationalität nicht entsprechen. Eine Hermeneutik, die Argwohn gegenüber Menschen mit Behinderungen zulässt, kann das Bild Gottes oder der Seele als Vernunft oder Rationalität nicht akzeptieren. Es liegt auch auf der Hand, dass diese Interpretationen des Bildes Gottes oder der Seele als Vernunft oder Rationalität mit anderen Weltsichten, z. B. der afrikanischen, nicht vereinbar sind.

36. Traditionelle Definitionen von Heilung, Ganzheit und Heiligkeit (die auf einer bestimmten theologischen Anthropologie Gottes, des Ebenbildes Gottes und des Leibes Christi beruhen, die ihrerseits auf kulturellen Vorstellungen von Schönheit und Vollkommenheit in Bezug auf das Ebenbild Gottes und des Leibes Christi basieren) helfen überhaupt nicht weiter, vor allem bei der Feier der Eucharistie. Solche Theologien verwenden Heilung manchmal als reine Metapher, was auf Menschen mit Behinderungen äußerst ausgrenzend und negativ wirkt.

37. Bei Behinderungen wird häufig davon ausgegangen, dass Heilung entweder bedeutet, das Problem aus der Welt zu schaffen, als ob es sich dabei um einen ansteckenden Virus handelte, oder dass sie zu tapfer ertragenem Leiden oder zu größerem Glauben an Gott verhelfe. Bei solchen theologischen Vorstellungen von Heilung steht entweder das "Kurieren" oder die "Hinnahme" eines Zustandes im Vordergrund.

38. Andere Definitionen von Heilung unterscheiden theologisch deutlich zwischen Heilung und einer Krankheit. Heilung bezieht sich auf die Beseitigung unterdrückerischer Strukturen, während Behandlung einer Krankheit etwas mit der physiologischen Wiederherstellung des physischen Leibes zu tun hat. Für manche Theologen zielte Jesu Wirken auf Heilung und nicht auf Behandlung einer Krankheit ab.

39. Diese Art von Theologie betrachtet Behinderung als ein soziales Konstrukt und Heilung als die Aufhebung gesellschaftlicher Schranken. Aus dieser Perspektive geht es in den Heilungsgeschichten in den Evangelien vor allem um die Wiedereingliederung von Menschen in ihre Gemeinschaft und nicht um die Heilung ihrer physiologischen Probleme. So geht es beispielsweise dem Aussätzigen in Mk. 1, 40-45 mit seiner Bitte, dass Jesus ihn reinigen möge, vor allem darum, ihn in seine Gemeinschaft zurückzuführen. Ähnlich verhält es sich mit dem Gichtbrüchigen, dem Jesus in Mk. 2, 1-12 begegnete und ihm seine Sünden vergab.

40. Sünden vergeben bedeutet hier, das Stigma aufzuheben, das ihm von einer Kultur zugefügt worden ist, in der Behinderungen mit Sünde in Verbindung gebracht werden. Demnach war dieser Mann als Sünder geächtet und unwürdig, von seiner Gesellschaft angenommen zu werden. In diesen Heilungsgeschichten hebt Jesus vor allem soziale Schranken auf, um offene, inklusive Gemeinschaften zu schaffen.

41. Aus dieser Sicht ist die frohe Botschaft des Evangeliums, dass es inklusive Gemeinschaften schafft, indem es unterdrückerische und entmenschlichende Systeme und Strukturen in Frage stellt. Menschen aus Afrika könnten allerdings dagegen einwenden, dass Theologen, die ihre Gedanken in diese Richtung lenken, sich aus naturwissenschaftlicher Perspektive auf einen theologischen "Reduktionismus" der Heilung einlassen. Eine westliche wissenschaftliche Weltsicht könnte hingegen argumentieren, dass die in den biblischen Berichten beschriebenen medizinischen Symptome physiologisch nicht durch göttliches Eingreifen geheilt werden konnten. Manche Theologen werden sogar sagen, dass diese Art der Heilung mit dem Entstehen der westlichen medizinischen Wissenschaft ihr Ende fand.

42. Es ist darauf hinzuweisen, dass Jesus keinen Unterschied zwischen sozialer Reintegration und körperlicher Heilung machte. Bei jeder Heilung geschah jeweils beides. Folglich ist die integrale Beziehung von Gesundheit, Heil und Heilung Grundbedingung einer ganzheitlichen theologischen Interpretation der Behinderung. Das erfordert einen anderen theologischen Diskurs über den Leib Christi und das Ebenbild Gottes aus der Perspektive von Menschen mit Behinderungen.

43. Die biblischen Heilungsgeschichten sind wichtige Grundlagen für eine theologische Hermeneutik der Behinderung. Man muss sich jedoch bei Untersuchungen in dieser Richtung davor hüten, einem anderen theologischen Irrtum zu erliegen, nämlich dem, was Nancy Lane "Opfertheologie" nennt. Opfertheologien haben die Tendenz, Menschen für ihren mangelnden Glauben verantwortlich zu machen, der die Erklärung dafür ist, dass ihre Behinderungen nicht geheilt werden; sie zu bezichtigen, von Dämonen besessen zu sein, die ausgetrieben werden müssen; zu behaupten, dass Gott durch die Leiden von Menschen mit Behinderungen Gottes Ruhm und Macht kundtut; oder die Behinderung entweder auf die Sünden der Eltern oder der behinderten Menschen selbst zurückzuführen.

44. Opfertheologien "... bürden die Last der Heilung demjenigen auf, der behindert ist, und verursachen damit neues Leid und eine dauerhafte Entfremdung von den Glaubensgemeinschaften". (Lane)

45. Für Menschen mit Behinderungen ist die Beziehung zwischen Heilung und Behinderung ambivalent und uneindeutig. Während andere Theologen in der Bibel eine eindeutige Definition für Heilung finden, ist Heilung für Menschen mit Behinderungen etwas Vorläufiges, Relatives, Ambivalentes, Unklares und noch nicht Abgeschlossenes. Heilung kann Freude und Trost bringen. Sie kann aber auch Schmerz und Enttäuschung bedeuten und tiefgreifende theologische Fragen aufwerfen.

46. Ein zwangsjackenartiges Verständnis von Heilung im Allgemeinen und die biblischen Heilungsgeschichten im Besonderen machen die Diskussion über Heilung in Bezug auf Behinderung äußerst schwierig. Natürlich müssen wir vermeiden, von Heilung zu sprechen, insbesondere im Zusammenhang mit Behinderung, um unsere positive Vorstellung von Heilung zu rechtfertigen, ohne uns auf die gesamte raison d'être der christlichen Theologie zu beziehen. Heilung aus der Perspektive sozio-ökonomischer Emanzipation, physischer Wiederherstellung des Leibes oder aus psychologisch/spiritueller Perspektive zu diskutieren, führt zu irrigen und spekulativen Argumenten darüber, wie und warum Jesus Heilungen gewirkt hat.

47. Eine theologische Erklärung zum Thema Heilung und Behinderung darf die Heilsgeschichte nicht außer Acht zu lassen. Heilsgeschichte ist hier verstanden als Selbstoffenbarung Gottes durch Ereignisse und Taten, durch die Gott Gottes Schöpfung in der Vergangenheit, heute und künftig durch das Wirken des Heiligen Geistes verwandelt, befähigt, erneuert, versöhnt und befreit und alles in ihr möglich gemacht hat. Eine solche Theologie lässt sich in der Heiligen Schrift belegen.

48. Deshalb versuchen wir, Heilung aus der Perspektive der Behinderung vor dem Hintergrund der Heilsgeschichte zu definieren. Dazu bedarf es aber auch einer Arbeitsdefinition für Behinderung, die auf derselben Grundlage beruht, auf der auch Heilung definiert wird. Gott sagt in 1. Mose 1, 25b, dass die Schöpfung gut sei. Sie war gut, weil Gott in der Schöpfung Heilsgeschichte gewirkt hat, in der Gott die Schöpfung auch weiterhin verwandeln, erneuern, versöhnen und befreien will. Gottes Schöpfungs- und Heilswirken gehören zusammen. Das Bild des Leibes soll dies verdeutlichen. Wenn es uns gut geht, dann sorgt unser Körper für Antikörper, die Krankheiten verhindern, aber auch für die Produktion von Antikörpern, die Viren und Bakterien bekämpfen, die uns krank machen würden.

49. Nach diesem theologischen Verständnis negiert Behinderung den Willen Gottes, dass seine Schöpfung gut sein soll. Behinderung ist damit in allen ihren Formen und mit allen ihren Ursachen eine Negierung des gütigen Willens Gottes. In ähnlicher Weise gilt, dass alle negativen Einstellungen, Systeme und Strukturen, die Menschen mit Behinderungen ausgrenzen, die sie in irgendeiner Form einengen oder dazu beitragen, dass Menschen mit Behinderungen ausgegrenzt werden, nicht das von Gott gewollte Gute der Schöpfung verwirklichen.

50. Heilung ist demnach eine Handlung, ein Ereignis, ein System und eine Struktur, die Gottes befähigendes, erneuerndes, versöhnendes und befreiendes Handeln vorantreiben und ermöglichen, um die Negation des von Gott für die Schöpfung gewollten Guten umzukehren. Deshalb muss der übergreifende theologische Beitrag zu den Heilungsgeschichten im Neuen Testament darin bestehen, Gottes Heilsgeschichte sichtbar zu machen oder Zeichen der Heilsgeschichte Gottes zu sein. Gottes Wille ist die Annahme jedes Menschen und seine Aufnahme in eine interdependente Gemeinschaft, in der alle einander unterstützen und erbauen, in der jeder und jede Einzelne je nach seinen und ihren besonderen Lebensumständen zur Ehre Gottes ein
Leben in Fülle lebt.

Jeder Mensch eine Gabe Gottes

51. Alles Leben ist eine Gabe Gottes; diese Schöpfung ist etwas Ganzheitliches. Wir lesen im 1. Buch Mose (1, 31), dass Gott, nachdem er alles geschaffen hatte, Himmel und Erde und alles Leben, ansah, was er gemacht hatte und "... siehe, es war sehr gut." Gott hat nicht gesagt, es sei "vollkommen". Mit dem Atem des Lebens hat Gott jeden Menschen mit Würde und Wert erfüllt. Wir glauben, dass die Menschen "zu einem Bild, das Gott gleich sei" (1. Mose 1, 26), geschaffen sind und jeder und jede Züge dieses göttlichen Wesens trägt, dass aber niemand von uns Gott vollständig oder vollkommen widerspiegelt. Ebenbild Gottes zu sein, bedeutet nicht nur, ihm ähnlich zu sein, sondern auch, so werden zu können, wie Gott es will.

52. Das schließt alle Menschen ein, welche Fähigkeiten oder Beeinträchtigungen sie auch haben mögen. Es bedeutet, dass jeder Mensch von Natur aus mit Gaben ausgestattet ist und etwas anzubieten hat, was anderen fehlt. Das kann ganz einfach seine Gegenwart sein, seine Fähigkeit, auf Zuneigung zu reagieren, jemandem ein Zeichen der Anerkennung zu geben und andere Menschen zu lieben. Jeder und jede hat etwas Einzigartiges beizutragen (1. Kor. 12, 12-27) und sollte deshalb als Gabe Gottes angesehen werden. Wir können nicht von dieser "Begabung" sprechen, ohne zugleich von den Begrenzungen jedes Menschen zu reden. Sie sind die Begründung dafür, dass wir einander und Gott brauchen, ungeachtet welchen Namen wir unseren Fähigkeiten geben. In dieser Interdependenz zu leben, macht uns füreinander offen und verhilft uns zu tieferer und aufrichtigerer Selbsterkenntnis; so wird jeder von uns in umfassendem Sinne menschlicher, gemeinschaftsfähiger und bewusster, Träger des Imago Dei zu sein.

53. Neben den Gaben der Beziehungsfähigkeit, die jedem Menschen angeboren sind, haben die meisten Menschen mit Behinderungen auch noch andere Gaben, die sie in das Leben der Gemeinschaft und der Kirche einbringen können. Diese sind so unterschiedlich wie die vielen verschiedenen Teile des menschlichen Leibes, aber alle sind notwendig für das Ganze. Sie umfassen natürliche Fähigkeiten der Wahrnehmung und Bewegung, Talente und Befähigungen, die durch Bildung und Ausbildung in Bereichen wie akademischen Disziplinen, Religion, Wissenschaft, Wirtschaft, Sport, Technologie, Medizin und in der Kunst entfaltet werden. Während viele Gaben im Laufe des Lebens eines Menschen zur Reife gelangen, können andere wegen der besonderen Umstände, darunter auch wegen einer Behinderung, keine Frucht tragen. Wir brauchen einander, damit unsere Gaben offenbar werden können. Ein Mensch, der Ablehnung oder Herabwürdigung erfahren hat, kann möglicherweise viele seiner Gaben oder seinen Beitrag für die Menschheit nicht zeigen oder teilen, wenn ihm nicht uneingeschränkte Annahme und bedingungslose Liebe entgegengebracht werden. In unseren Beziehungen sollen die Gaben der anderen sichtbar werden, damit jeder Mensch seine Möglichkeiten zum Ruhme Gottes verwirklichen kann.

54. Menschen mit Behinderungen und ihre Familien, Freunde und Betreuer/Pflegekräfte haben Gaben einzubringen, die gerade aus der Erfahrung des Lebens mit einer Behinderung gewonnen worden sind. Menschen mit Behinderungen wissen, was es bedeutet, dass sich das Leben unerwartet von Grund auf verändern kann. Wir waren in jenem Grenzbereich zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten, in dem wir nur zuhören und abwarten konnten. Wir hatten Angst und den Tod vor Augen und kennen nun unsere eigene Verwundbarkeit. Wir sind Gott in jener leeren Dunkelheit begegnet, in der uns bewusst wurde, dass wir "die Kontrolle" über uns verloren haben, und wir haben gelernt, auf Gottes Gegenwart und Fürsorge zu vertrauen. Wir haben gelernt, bereitwillig anzunehmen, mit Freuden zu geben und dankbar für den Augenblick zu sein. Wir haben gelernt, Neuland zu gewinnen und einen neuen Weg für unser Leben zu finden, der uns noch nicht vertraut ist. Wir haben gelernt, uns anzupassen und erfinderisch zu sein, unsere Phantasie zu gebrauchen, um neue Probleme zu lösen. Wir lassen uns nicht unterkriegen. Wir wissen, was es bedeutet, im Zwiespalt und inmitten von Paradoxen zu leben, und wir wissen, dass vereinfachende Antworten und Sicherheiten uns nicht tragen. Wir haben uns in manchen Bereichen Geschicklichkeiten erworben, die wir uns niemals zugetraut hätten. Wir sind unvermutet zu Experten geworden, die Fähigkeiten und Sachverstand in die größere Gemeinschaft und in die Kirche einbringen können.

55. Menschen mit Behinderungen sind mit Gaben ausgestattet; wir sollen aber auch selbst Gabe sein, die sich in Gottes Dienst stellt. Gott will uns ganz, er will, dass wir uns vollkommen hingeben, dass wir nichts zurückhalten. Dazu gehört auch unsere Behinderung (unsere Beeinträchtigung). Wir müssen uns ihrer nicht schämen oder sie unter allen Umständen verbergen. Für einen behinderten Menschen ist die Beeinträchtigung eines seiner Attribute; sie muss hineingenommen werden als Teil der "heiligen und angenehmen" Selbsthingabe. Ebenso falsch wie die Leugnung der Realität einer Behinderung als Teil unseres Lebens wäre es, dem Beitrag eines Menschen mehr Ehre und Anerkennung zu erweisen, nur weil er eine Behinderung hat.

Fragen an die Theologie

56. In dem Teil der vorliegenden Erklärung, in dem es um ein theologisches Verständnis geht, haben wir jeden Versuch zurückgewiesen, unsere Art der Auslegung der Heilungsgeschichten in den Evangelien zu verengen. Es drängte uns, unsere theologischen Vorstellungen auf eine möglichst breite, umfangreiche Grundlage zu stellen, damit alle Aspekte menschlichen Lebens in Bezug auf Christi erlösende Gnade zur Sprache kommen können. Jesus ist gekommen, damit wir Leben die Fülle haben sollen (Joh 1, 16), und in ihm soll alles zusammengefasst werden (Eph 1, 10). Diese Vision der Einheit in Jesus Christus bringt uns dazu, jede Form der Verengung abzulehnen und das Leben in seiner ganzen Fülle und Vielschichtigkeit zu sehen. Alle Theologie ist theologia viatorum, Theologie auf dem Wege, und deshalb kann auch dies nur eine vorläufige Erklärung sein. In Bezug auf Behinderungen ist die Theologie gefordert, über Gott, den Glauben und das Leben so zu reden, dass der Weg für eine Zukunft Gottes geöffnet wird - das kann für uns alle eine Überraschung sein, es kann uns einen und jede menschliche Existenz transzendieren. Ein theologisches Verständnis der Behinderung muss diese Problematik in den Zusammenhang der Geschichte von Gottes Heilsplan stellen, die noch kein Ende hat.

57. Menschen mit Behinderungen, und unter ihnen vor allem Menschen mit Lernbehinderungen, stören in manchen Gesellschaften die geltende Ordnung und bringen sie durcheinander. Behinderte Menschen stören die menschlichen Vorstellungen von Vollkommenheit, Zielstrebigkeit, Belohnung, Erfolg und Status; sie stören auch die Vorstellungen von einem Gott, der Tugendhaftigkeit mit Gesundheit und Wohlergehen belohnt. Die Reaktion auf solche Störungen kann Mitleid sein, das sich in karitativer Arbeit niederschlägt, aber auch Vertreibung (Menschen müssen aus den Augen und aus dem Sinn) und/oder Angst. Welche Grundlage diese Reaktionen auch haben mögen - behinderte Menschen erhalten in der Gesellschaft nicht den ihnen gebührenden Platz.

58. Dass es in unserem Leben Behinderungen gibt, stellt die Grundlagen unseres Denkens und die Stereotypen in Frage, die sich im Laufe der Zeit herausgebildet haben. Wir decken die Realität der Behinderung häufig mit dem Mantel des Schweigens zu, oder wir reagieren mit erniedrigendem Mitleid, Spott oder Hass. Wie wir mit Menschen mit Behinderungen umgehen, ist aber für die Botschaft vom Kreuz von wesentlicher Bedeutung.

59. Wir Christen beten zu einem Gott, der Mensch wurde und dann reglos und all seiner Fähigkeiten bis zum Äußersten beraubt am Kreuz hing. Wir haben einen verletzlichen und verwundeten Gott. Doch oft überspringen wir die Kreuzigung lieber oder vergessen sie und gehen sofort zur Auferstehung über. Christus ist von den Toten mit seinen Wunden auferstanden. Wir entdecken ihn in unseren Wunden, und wir erkennen seine Gegenwart in unserer Verletzlichkeit und in unserem Mut, das Leben so zu leben, wie es uns geschenkt worden ist.

60. Für uns Christen ist das Kreuz Jesu Christi ein Symbol des Lebens. Als das Wort Fleisch ward (Joh 1, 14), war es das gebrochene Fleisch der Menschheit, das Christus angenommen an. Christus ist von den Toten mitden Wunden auferstanden, die er am Kreuz erlitten hat (Lk 24, 36-39). Als der Apostel Paulus bekannte, dass er selbst einen Pfahl im Fleisch habe, wurde ihm offenbart, dass Gottes Kraft in den Schwachen mächtig ist (2. Kor 12, 7-9). Lange bevor von den Heilungswundern im Evangelium die Rede war, gab es den ältesten Bericht darüber, dass das Wort Gottes von einem Behinderten verkündigt wurde, nämlich von Moses, der in 2. Mose 4, 10-17 auf seine Sprachbehinderung hinwies. Dies ist ein Beispiel dafür, dass Gott einen Menschen mit einer konkreten Behinderung erwählt - nicht trotz seiner Behinderung, sondern mit seiner Behinderung -, das Volk Israel aus Ägypten zu führen.

61. Schließlich brachte uns Christus im Letzten Abendmahl seinen geschundenen und behinderten Leib dar - und wir wiederholen das in unseren Liturgien immer wieder: Nehmet, esset; das ist mein Leib, der für euch gebrochen ist (vgl. Mt 26, 26).

62. Bei Paulus heißt es: "Wir haben diesen Schatz in irdenen Gefäßen" (2. Kor 4, 7). Der Schatz ist in menschlichen Leibern verborgen. Gott nahm Erde und machte Lehm daraus. In diesem von ihm geformten Tongefäß war der Atem des Geistes Gottes. Der Schatz ist in alltäglichen Dingen, das Ebenbild in gewöhnlichen Menschen verborgen. Paulus weist in dem vorangehenden Vers auf Gottes schöpferisches Wort hin - "Licht soll aus der Finsternis hervorleuchten" und bekräftigt damit, was in dem Querverweis auf den Schöpfungsbericht gesagt ist. Der Schatz ist das göttliche Licht, das in unsere Herzen scheint und uns die Herrlichkeit Gottes im Angesicht Jesu Christi kundtut.

63. Unsere Arbeit mit Kindern und Erwachsenen mit Behinderungen ist für uns mehr als nur eine Gelegenheit, unseren Nächsten zu dienen. Sie enthält für uns eine Anfrage an unsere Kultur, in der (weniger als Gottes Ebenbild) ein weltliches Bild vorherrscht, in dem höchste Perfektion Wertschätzung genießt und Schwäche der Kritik ausgesetzt ist, in dem nur Stärke etwas gilt und Schwächen zugedeckt werden. Wir aber bezeugen in unserem Leben die zentrale Bedeutung und die Sichtbarkeit des Kreuzes.

64. Eine weitere grundsätzliche Anfrage an die Theologie, die sich aus dem Vorhandensein von Behinderungen in unserem Leben ergibt, ist unser fehlgeleitetes Verständnis von Vergebung. Althergebrachte Vorstellungen aus jüdisch-christlichen Schriften, die im Laufe der Geschichte des Christentums immer wieder bestätigt worden sind, haben immer wieder von neuem dazu geführt, dass Behinderungen mit Scham, Sünde oder mangelndem Glauben in Verbindung gebracht wurden. Es ist schwer, diesen Mythos zu zerstören. Wenn wir versucht sind, Behinderung als eine Strafe oder Prüfung Gottes zu verstehen, dann müssen wir umdenken. Wenn Familien von der Last solcher Vorstellungen, die ihnen das kulturelle Umfeld auferlegt, überfordert werden, dann müssen wir sie und uns mit aller Entschiedenheit auf das verweisen, was Christus gelehrt hat. Jesus antwortete auf die Frage nach dem Blindgeborenen:

"Es haben weder die Menschen mit Behinderungen gesündigt noch ihre Familien. Menschen, die eine Behinderung haben, sind jedoch in diese Welt hineingeboren, damit in ihnen die Werke Gottes offenbar werden." (Joh 9, 3 - sinngemäß)

65. Jeder und jede von uns ist so geboren, wie er oder sie ist - mit den Gaben, die wir empfangen haben, aber auch mit unseren Unzulänglichkeiten -, damit die Werke Gottes in uns offenbar werden. Wenn wir von Vergebung sprechen, dann denken wir meist an Schuld und Erlösung. Das altgriechische Wort für Vergebung ist aber synchoresis. Und das heißt wörtlich "Zusammenfügung" (syn-chore-sis), "denselben Raum miteinander teilen" oder "Raum schaffen für alle Menschen". Vielleicht kann uns dieser Gedanke helfen, Behinderung von Sünde und Schuld zu trennen.

Mit behinderten Menschen für ihre uneingeschränkte Selbstverwirklichung kämpfen

66. Wie schon in vorchristlicher Zeit werden zu Beginn des 21. Jahrhunderts ganze Bereiche der Bevölkerung, die mit dem von der Gesellschaft geforderten Standard nicht mithalten können oder weniger leistungsfähig sind, herabgesetzt, verachtet oder, wie man es heute nennt, ausrangiert. Ein hoher Prozentsatz von ihnen sind Menschen mit sensorischen, motorischen und geistigen Behinderungen.

67. In allen großen Städten der Welt leben Männer und Frauen jeder Altersgruppe, ethnischen Herkunft, Hautfarbe, Kultur und Religion wegen ihrer Behinderung in bitterster Armut, in Hunger und Abhängigkeit, leiden unter vermeidbaren Krankheiten und werden von Menschen, die nicht behindert sind, schlecht behandelt.

68. In diesem neuen Jahrhundert hat die Kirche die Aufgabe, der Gesellschaft vor Augen zu führen, dass die Menschen Ebenbild des behinderten Jesus sind - Menschen mit Behinderungen, die abgelehnt und ihrem Schicksal überlassen werden.

69. Es schmerzt, dass die Kirchen überall in der Welt die Leiden von Marginalisierten, Armen, Blinden, Gehörlosen und physisch und geistig eingeschränkten Menschen nicht entschlossener zu ihrer Aufgabe gemacht haben. Wir brauchen kein Mitleid, auch kein Erbarmen, sondern mitfühlendes Verständnis und Chancen, damit wir unsere Berufung, unsere Möglichkeiten und Fähigkeiten entfalten können.

70. In ihren Bemühungen um Frieden, um die Bewahrung der Umwelt, um Gleichberechtigung von Männern und Frauen, um die Rechte von Kindern und um die Betreuung alter Menschen sollten Kirchen und Christen auch das Ringen der behinderten Menschen um volle Selbstverwirklichung auf ihre Tagesordnung setzen."Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan" (Mt 25, 40).

71. In den letzten zwanzig Jahren hat sich in unseren Kirchen und christlichen Institutionen die Einstellung zu Behinderung und behinderten Menschen zum Besseren gewandelt. Das ist eine begrüßenswerte Entwicklung, wenn sie auch noch weit davon entfernt ist, Allgemeingut zu sein.

72. Wir können aber nicht übersehen, dass in einigen Teilen der Welt und in einigen Kirchen eine Rückkehr zu Bevormundung oder sogar Gleichgültigkeit gegenüber behinderten Menschen zu beobachten ist. An manchen Orten wurden wir von evangelikalen Gruppen manipuliert. Manipulation behinderter Menschen kann zu einer neuen Sünde der Kirche werden, die größer ist als Gleichgültigkeit.

Kirche für alle: Gemeinschaft

73. Als Jesus das Reich Gottes mit einem König verglich, der ein Festmahl für seine besten Freunde bereitet, hatte er wohl den Jesaja-Text im Sinn. Sicher haben viele Menschen, die mit einer Behinderung leben, oder die Menschen, die ihnen nahe stehen, manchmal das Gefühl, dass über ihr Leben ein Leichentuch gebreitet worden ist, dass sie in ihrer Gemeinschaft als Schandfleck betrachtet werden. Matthäus berichtet in seiner Geschichte, dass die Gäste, die der König geladen hatte, so sehr mit ihren eigenen Dingen beschäftigt waren, dass sie die Einladung missachteten. Er verschiebt das Festmahl aber nicht auf einen anderen Termin. Stattdessen lädt er alle Leute ein, die gerade in der Nähe sind. Jesus hat nicht gesagt, dass das Reich Gottes einer künftigen Welt vorbehalten wäre; er sagte vielmehr: "Das Reich Gottes ist herbeigekommen." Es ist heute da; entscheidet euch jetzt! Nicht mehr die Elite wird eingeladen; nein, alle, die ignoriert, vergessen und übersehen worden sind, sollen kommen. Wenn alle zu diesem Fest geladen, in diese Kirche eingeladen sind, dann stehen auf der Gästeliste auch Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen und chronischen Krankheiten. Was bedeutet es für unseren Gottesdienst, wenn wir statt nur die einzuladen, deren Verhaltensmuster, Ausdrucksweisen und Vorlieben uns vertraut sind, eine offene Einladung an alle richten? Welche Botschaft haben wir heute für die Gemeinden?

74. Der deutlichste Ausdruck für das Zusammenkommen in Gemeinschaft ist der Gottesdienst in der Gemeinde. Wenn Liturgie wirklich das Werk der Gemeinde und Teilhabe des versammelten Leibes im Gottesdienst sein soll, dann müssen wir uns daran erinnern, was Gott in alten Zeiten gesagt hat: "Mache den Raum deines Zeltes weit und breite aus die Decken deiner Wohnstatt", damit alle Platz finden (Jes 54,2). Wir müssen unseren Raum umgestalten, neu über unsere Liturgie nachdenken und noch einmal überdenken, welche Rolle jeder und jedem Einzelnen zukommt. Was in der Liturgie und in der Behinderung zum Ausdruck kommt, hat mit der Zerbrechlichkeit unseres Lebens und unserer Abhängigkeit von Gott zu tun. Wir müssen das, was uns zu schaffen macht, mit in den Gottesdienst bringen dürfen, damit die Symbole der Liturgie für uns mit Sinn erfüllt werden. Der Gottesdienst ist Symbol für Gottes Festtafel. Geben wir allen, die herzutreten wollen, die Möglichkeit, an dem Fest und an unseren Gesprächen teilzuhaben? Ist in diesem versammelten Leib wirklich Platz für alle Menschen? Wenn uns daran liegt, dass alle am Gottesdienst teilhaben können, dann müssen wir dafür sorgen, dass unsere Erfahrung mit und unsere Ausdrucksformen in der Liturgie den ganzen Menschen einbeziehen: seine Körperbewegungen, seine Sinne und seinen Verstand. Menschen mit Lernbehinderungen spüren, ob die Gemeinde wirklich integrativ ist. Sie lassen sich von echter, tiefer Hingabe der Menschen um sich herum anstecken und reagieren auf diese Frömmigkeit.

75. In unserer Lehre und unserem Gottesdienst wird, vor allem in den protestantischen Traditionen, Worten große Bedeutung beigemessen. Das "Wort" Gottes ist wesentlicher, vitaler Teil unseres Glaubens. Bibeltexte machen uns mit Menschen und Ereignissen bekannt, erzählen die Geschichte der Beziehung Gottes zu den Menschen, lehren uns Gottes Wege und geben unserem täglichen Leben Wegweisung. Die Worte von Predigten, Gebeten und Chorälen können unsere Sinne anregen und uns tief im Herzen erreichen, uns aus unserer Trägheit reißen, uns beseelen oder trösten. Die Worte, die wir wählen, haben Kraft, Bilder in uns erstehen zu lassen und unsere Identität und unsere Beziehungen verstehbar zu machen. Allzu oft klingen sienicht wie eine gute Nachricht, enthalten sie keine hoffnungsvolle Botschaft für Menschen mit Behinderungen. Und allzu oft können Kinder und Menschen mit Lernbehinderungen von der vollen Teilhabe ausgeschlossen sein, "weil sie nicht verstehen". Von ihnen wird in Gebeten und Texten, die in unseren Kirchen häufig benutzt werden, genauso wie von den Armen, Obdachlosen, Kranken, Eingekerkerten oder Drogenabhängigen in der dritten Person, von "denen", gesprochen. Das klingt so, als ob diese Menschen nicht zur Gemeinde gehörten. Wir müssen in unserer Sprache darauf achten, dass wir nicht eine "wir/sie"- Beziehung herstellen, die behinderte Menschen zu Außenseitern, zu "den anderen" macht.

76. Auch Metaphern können unsere Brüder und Schwestern zu Fremden machen. Es ist herabwürdigend und erniedrigend, wenn mangelndes Mitgefühl, fehlende Bereitschaft zum Zuhören oder mangelnde Entschlusskraft mit Adjektiven wie blind, geisteskrank, taub oder gelähmt beschrieben wird. Wenn wir unsere Kraft oder unsere Identität auf eine Weise herausstellen, die Menschen mit körperlichen oder geistigen Schädigungen herabsetzt, stellen wir uns gegen sie; grenzen wir sie aus. Vielleicht projizieren wir unsere Angst und alles, was an uns unzulänglich ist, unbewusst auf sie und machen sie damit zur Verkörperung des Bösen. Ein Beispiel unserer mangelnden Sensibilität ist etwa die Formulierung in einem Schuldbekenntnis: "Die Sünde hat uns entstellt." Es ist zu bezweifeln, dass solche Worte jemandem Trost spenden, der Brandnarben oder Missbildungen im Gesicht hat. Wenn wir auch Bibelstellen mit solchen Metaphern nicht ändern können, so können wir doch in unseren Predigten, Liturgien und Chorälen eine andere Sprache für das finden, was wir mitzuteilen haben.

77. Alle diese Worte und Ausdrucksformen können unser Denken anregen und manches deutlich machen. Einen solchen Diskurs zu verfolgen, kann aber für Menschen mit geringer Bildung, kurzer Konzentrationsphase, Wahrnehmungseinschränkungen oder anderen geistigen Beeinträchtigungen ermüdend und verwirrend sein. Manche Menschen "hören" oder verstehen Gottes Wort und begreifen das Mysterium und die Majestät der Gegenwart Gottes in ihrem Leben mit Hilfe ihrer sinnlichen Erfahrung: durch die Wahrnehmung von Licht oder Farbe, durch ein Bild oder eine Skulptur, den Geruch von Weihrauch, durch Schweigen, Musik, Tanz, durch eine Prozession, eine Umarmung, durch Händeklatschen in einem Kreis. Diese sinnliche Erfahrung in der Liturgie ist für uns alle wichtig, besonders aber für Kinder, ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen. Das sollten wir beachten, wenn wir Gottesdienste für alle und den Rahmen dafür planen.

78. Es gibt viele nicht verbale Gottesdienstelemente, und wir können sorgfältiger darüber nachdenken, wie wir sie einbringen können, um den Gottesdienst für alle reicher zu gestalten: Etwa tänzerische Bewegungen, szenische Darstellungen, Händeklatschen im Gebet, das Erheben der Hände zum Segen, das Kreuz schlagen, Händeschütteln, Umarmungen, die Augen erheben, den Kopf senken, Geschenke verteilen und Brot und Kelch weiterreichen; das Berühren bei der Salbung und bei der Taufe, die Handauflegung, die Fußwaschung, Händereichen und das Anlegen von Gewändern; wir können Weihrauch, Wein, Blumen und Kerzen riechen, Brot und Wein oder Saft schmecken. Außer Worten hören wir Musik, Klatschen, Glockenläuten, Seufzen und den Atem. Vor Jahrhunderten, als viele Menschen nicht lesen konnten und keinen Zugang zur Schrift hatten, gab es in den Kirchen eine Fülle von visuellen Darstellungen biblischer Geschichten. Es gab Wandgemälde, Tapisserien, Skulpturen, Ikonen und farbige Glasfenster. Auch heute gibt es in den Kirchen noch viele solcher visuellen Elemente; es können auch Fahnen, Antependien, farbige Gewänder, Stolen, Blumen, Luftballons sowie liturgischer Tanz und szenische Elemente verwandt werden, um die Botschaft unseres Glaubens darzustellen.

79. Für Menschen, die Hörprobleme haben, sollte es viel zu sehen geben; wer nur wenig sieht, sollte viel zu hören bekommen. Verbale Hinweise des Pfarrers/der Pfarrerin oder des Liturgen/der Liturgin können blinden Menschen eine Hilfe sein. Sonst bringen sie womöglich den ganzen Gottesdienst damit zu, herauszufinden, wann sie sitzen, knien oder stehen sollen. Es braucht ja nur gesagt zu werden: "Bitte erhebt euch" oder "Bitte setzt euch". Menschen, die nicht lange still sitzen können, sollten die Möglichkeit haben, sich zu bewegen. Es sollte auch immer möglich sein, dass jemand sitzen bleibt, wenn die anderen während eines Teils oder des ganzen Gottesdienstes stehen. In Gottesdiensten, in denen alle auf dem Fußboden oder auf der Erde sitzen, sollte es einen Stuhl oder eine Bank für Menschen geben, die Mühe haben, sich niederzusetzen oder wieder hochzukommen. Manche können nicht knien oder fühlen sich auf Stufen nicht sicher; denen sollte das Abendmahl an ihren Platz gebracht werden. Für diejenigen, die unsicher auf den Beinen sind, sollte es einen gut begehbaren Weg und einen sicheren Standplatz ohne Stufen geben. Bei der Einrichtung des Gottesdienstraumes sollte dafür gesorgt werden, dass Menschen, die einen Rollstuhl benutzen, sich ihren Sitzplatz aussuchen können, damit sie zusammen mit ihren Angehörigen und Freunden Teil des versammelten Leibes sein können; sie sollten nicht an einen Ort weit vor oder weit hinter den anderen angewiesen sein oder in einen Seitenflügel abgeschoben werden. Einige Kirchenbänke könnten verkürzt werden, um Raum für Rollstühle zu schaffen.

80. Die Akustik ist ganz besonders für seh- oder hörbehinderte Menschen wichtig. Menschen, deren Sehvermögen eingeschränkt ist, verlassen sich umso mehr auf ihr Gehör, und wer schwerhörig ist, ist auf eine gute Lautsprecheranlage angewiesen, die die Stimme des Predigers/Liturgen oder der Predigerin/Liturgin verstärkt. Einzelne zusätzliche Hörhilfen, die mit und ohne Hörgeräte benutzt werden können, sind besonders geeignet. Eine gute Beleuchtung ist unerlässlich für Menschen mit eingeschränktem Sehvermögen, damit sie die Sehfähigkeit, die sie noch haben, auch voll nutzen können. Für gehörlose oder schwerhörige Menschen ist es wichtig, dass sie die Lippen des Sprechers/der Sprecherin oder des Gebärdendolmetschers sehen können. Eine gedruckte Gottesdienstordnung kann besonders hilfreich für Menschen mit Hörproblemen sein. Exemplare in großen Buchstaben (Fontgröße 18 bei Computern oder Vergrößerungen auf dem Fotokopierer) lassen sich leicht für Menschen mit eingeschränktem Sehvermögen herstellen. Es gibt Bibeln in Großdruck zu kaufen, und die Noten für einen Gottesdienst kann man auf einem Fotokopierer vergrößern. Overhead-Projektoren und Computer können eingesetzt werden, um gedruckte Materialien großformatig für die ganze Gemeinde sichtbar zu machen. Obwohl nur ganz wenige blinde Menschen die Braille-Schrift lesen können, könnte sie den Wenigen, die sie beherrschen, den Zugang zur Liturgie erheblich erleichtern. Braille-Bücher, darunter auch Bibeln und Gesangbücher, brauchen viel Platz; deshalb haben manche Gemeinden Lose-Blatt-Sammlungen, denen sie jeweils die für einen bestimmten Gottesdienst benötigten Seiten entnehmen. Nach dem Gottesdienst werden sie wieder abgeheftet, damit sie für die nächste Gelegenheit zur Verfügung stehen.

81. Außer praktischen Vorkehrungen wie Beleuchtung, Lautsprecheranlagen und geeigneten Sitzgelegenheiten, die Raum für alle schaffen, müssen wir jedoch auch auf Einstellungen und Verhaltensweisen achten, die Barrieren für Menschen mit Behinderungen aufrichten und ihnen das Gefühl geben können, nicht willkommen zu sein oder nicht dazu zu gehören. Damit sich Menschen mit Behinderungen wirklich in der Kirche willkommen fühlen, müssen sie Menschen wie sie in leitenden Funktionen der Kirche erleben. Wenn Menschen mit Behinderungen eine größere Rolle spielen sollen, müssen die Glaubensgemeinschaften überdenken, wer willkommen heißen und hereingeleiten soll, wer Fahnen tragen, wer im Chor singen darf, wer als Lektor berufen wird und wer die Gebete leiten darf. Ist der Altar auch für Rollstuhlfahrer oder für Menschen mit Gehhilfen zugänglich? Kann das Mikrofon in der Höhe verstellt werden? Inklusivität erfordert, dass behinderte Menschen davon überzeugt sind, dass sie je nach ihren Fähigkeiten, ihrer Einstellung und Berufung Zugang zu leitenden Funktionen haben und ihre Komplexe und Frustrationen überwinden können.

82. Strenge Regeln im Blick auf "angemessenes" Verhalten müssen möglicherweise gelockert werden. Es ist einfach so, dass manche Menschen nicht stehen oder knien können, andere nicht eine oder mehrere Stunden hindurch stillsitzen. Möglicherweise müssen sie wegen Rückenschmerzen oder Muskelverspannungen oder wegen Erregbarkeit, die durch ihre Behinderung bedingt ist, aufstehen oder herumlaufen können. Manche verstehen vielleicht auch nicht die "Regeln" des Schweigens; sie mögen vor sich hin murmeln, laut sprechen, wenn andere schweigend zuhören, oder unvermittelt unartikulierte Laute von sich geben. In solchen Situationen - wie gegenüber Menschen, die mit ihrem spontanen Singen "dem Hort unseres Heils frohlocken und jauchzen" (Psalm 95,1) - können wir Toleranz üben und anerkennen, dass uns so etwas nur wenig ablenkt und keine schwerwiegende Belästigung ist.

83. Die Integration behinderter Menschen in die Kirche bezeugt Gottes Liebe, die von allen seinen Söhnen und Töchtern zum Ausdruck gebracht wird. Sie kann auch Gesellschaften, in denen behinderte Menschen unter demütigender Marginalisierung leiden, als Vorbild und Inspiration dienen.

Eine Kirche für alle: Die Kirche als Gemeinschaft

84. Diese vorläufige Erklärung hat Idealziele vorgegeben, nach denen möglicherweise jede Gesellschaft strebt. Sie geht davon aus, dass Menschen mit Behinderungen mit Hilfe steigender Standards in der Gesundheitspflege an Wertschätzung gewinnen, mit allen in der Gesellschaft gleichgestellt und in der Gemeinschaft und nicht in Anstalten oder am Rande der wirtschaftlichen Konkurrenzgesellschaften betreut werden. In solchen Versorgungssystemen ist Rehabilitation möglicherweise weniger wichtig als die Sorge um Lebensqualität. Die Betreuung in der Gemeinschaft ist sehr teuer und überschreitet gegenwärtig die Möglichkeiten mancher Gesellschaften. Sie kann sogar in einem politischen Klima, das die Volkswirtschaften auf Niedrigsteuern einschwört, nicht mehr aufrechtzuerhalten sein. Echte Betreuung in der Gemeinschaft ist bemüht, wie diese Erklärung darzulegen versucht hat, behinderte Menschen ganzheitlich zu sehen, Rehabilitation aber muss sich häufig auf spezifische Behinderungsprobleme konzentrieren und verstärkt auf diese Weise die Konzentration auf die medizinische Seite der Behinderung. Durch Rehabilitation lassen sich möglicherweise die Pflegekosten senken und kann behinderten Menschen eine Existenzgrundlage und ein Platz in der Gesellschaft geschaffen werden. Der Kampf um Lebensqualität und Rechte wird häufig von behinderten Menschen unterstützt, die weniger abhängig sind oder denen es durch die Hilfen, die sie erhalten, möglich ist, sich einschlägigen Interessengruppen anzuschließen, die für Gleichberechtigung und soziale Gerechtigkeit eintreten.

Gleichviel, ob die Kirche an der Pflegevorsorge, an der Rehabilitation, an der Krankenhausseelsorge oder an der Betreuung behinderter Menschen beteiligt ist - sie muss immer die zentralen Aussagen über Gleichberechtigung und Würde in der christlichen Botschaft im Auge behalten und in ihrer ganzen Arbeit an vorderster Stelle vorantreiben.

85. Ihrem Wesen nach ist die Kirche ein Ort und ein Prozess der Gemeinschaft, der für alle Menschen ohne Diskriminierung offen ist und zu dem alle eingeladen sind. Sie ist ein gastlicher Ort, ein Ort, an dem alle willkommen sind, so wie Abraham und Sara Gottes Boten im Alten Testament aufgenommen haben (1. Mose 18). Sie ist der irdische Widerschein göttlicher Einheit, die zugleich als Trinität angebetet wird. Sie ist eine Gemeinschaft von Menschen mit unterschiedlichen, aber sich ergänzenden Gaben. Ihre Vision schließt alles ein: Ganzheitlichkeit und Heilung, Fürsorge und Teilen.

Denn wie der Leib einer ist und doch viele Glieder hat, so auch Christus. (1. Kor 12, 12)

86. Wir alle sind der Meinung und erklären, dass es dies ist, was die Kirche ausmacht und wofür sie eintritt. Hier liegt das Fundament unserer Einheit als Christen. Wie kann es dann aber nur zu oft geschehen, dass Menschen unter uns und um uns - in der Regel Menschen, die uns unbekannt oder fremd sind, die anders sind als wir oder vielleicht behindert - an den Rand geraten und sogar ausgegrenzt werden? Wo dies geschieht - auch wenn es sich nur um ein Unterlassen handelt -, ist Kirche nicht, was sie sein sollte. Dann verleugnet die Kirche ihre Identität. Wir in der Kirche sind aufgerufen, es anders zu machen. Der Apostel Paulus sagt, die Glieder des Leibes, die schwächer zu sein scheinen (wohlgemerkt, er sagt nicht, die "tatsächlich schwächersind") sind die nötigsten (1. Kor 12, 22).

87. Wenn wir an Menschen mit Behinderungen denken, neigen wir dazu, sie uns als schwach und hilfsbedürftig vorzustellen. In den Episteln gibt Paulus zu verstehen, dass Schwachheit nicht das Kennzeichen Einzelner oder einer bestimmten Gruppe ist, sondern der ganzen Kirche. Von Behinderungen sind nicht nur einzelne Menschen betroffen, sondern wir alle miteinander als Volk Gottes in einer zerbrochenen Welt. Unsere Welt ist erschüttert, und jeder und jede von uns ist ein kleines, zerbrechliches und kostbares Stück davon. Wir alle haben den Schatz des Lebens Gottes in irdenen Gefäßen (vgl. 2. Kor 4, 7). Und wir halten ihn fest, ja wir halten ihn zusammen. Unsere Einstellungen und unser Handeln gegenüber anderen Menschen müssen stets von dem Bewusstsein geleitet sein, dass wir unvollkommen, dass wir ohne die Gaben und Talente aller anderen Menschen weniger ganzheitlich sind. Ohne einander sind wir keine vollkommene Gemeinschaft. Auf Menschen mit Behinderungen einzugehen und sie voll in unsere Gemeinschaft zu integrieren, ist nicht nur eine Option für die Kirchen Christi. Es ist das Kennzeichen, das Kirche ausmacht.

88. Von entscheidender Bedeutung ist hier die wechselseitige Abhängigkeit. Auch wenn die säkulare Welt die Selbständigkeit hochhält - wir sind berufen, als eine von Gott und voneinander abhängige Gemeinschaft zu leben. Niemand sollte als Last für die übrigen betrachtet werden; und niemand ist nur Lastenträger. "Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen" (Gal 6, 2).

89. Vielleicht ist es ja der Ausgangspunkt für unsere Einstellungen und Reaktionen, den wir überdenken müssen. Vielleicht sollten wir nicht nur nach den jeweiligen Bedürfnissen fragen, sondern auch nach den einzigartigen Gaben aller Menschen in der Gemeinschaft. An anderer Stelle schreibt der Apostel Paulus über die Kirche als Leib Christi:

"Denn wie wir an einem Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder dieselbe Aufgabe haben, so sind wir viele ein Leib in Christus, aber untereinander ist einer des anderen Glied..." (Röm 12, 4-5).

Jedes Kind und jeder Erwachsene, Menschen mit und ohne Behinderungen, haben einzigartige, besondere Gaben und Talente in die Kirche einzubringen. Das geht uns alle an. So können wir wahrhaft eine Kirche aller sein - eine Kirche, die Gottes Heilsplan für die Menschen widerspiegelt.

Gott, lass uns, die du uns nach deinem Ebenbild geschaffen hast, Spiegel deines Erbarmens, deiner Schöpferkraft und deiner Phantasie sein, wenn wir uns daran machen, unsere Gesellschaft, unsere Gebäude, unsere Programme und unseren Gottesdienst so umzugestalten, dass alle daran teilhaben können. In dir sind wir nicht mehr allein, sondern in einem Leib vereinigt. Im Vertrauen auf deine Weisheit und Gnade beten wir dankbar zu dir in Jesu Namen.

Fußnote

1. In Großbritannien bezeichnet "carers" - Betreuer - Menschen, die auf Grund emotionaler Bindungen in der Regel für eine geringfügige oder gar keine finanzielle Vergütung Pflege übernehmen. Es gibt nationale Vereinigungen von Betreuern, die sich gegenseitig unterstützen und ermutigen. Professionelle Pflegekräfte gliedern sich in Gruppierungen mit einer Vielzahl von Berufsbezeichnungen. Das mag in anderen Kulturen anders sein, wo Bezeichnungen wie Betreuer von Angehörigen etc. üblich sind.
2. Luthers Sämtliche Schriften I., Auslegung des Alten Testaments I., Auslegung des ersten Buches Mose, Erster Teil, hrsg. von Dr. J.G. Wasch, , St. Louis, Mo., Concordia Publishing House, 1880, S. 77, Punkt 192.