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Ecumenical Centre under construction.

Baustelle des Ökumenisches Zentrums

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Pfarrer Dr. Odair Pedroso Mateus war Dozent für ökumenische Theologie am Ökumenischen Institut in Bossey (2004-2021), Direktor der ÖRK-Kommission für Glauben und Kirchenverfassung (2015-2022) und stellvertretender ÖRK-Generalsekretär (2020-2022).  Er ist Mitglied des Gemeinderates der Kathedrale St. Peter in Genf.

Unsere erste Station ist ein Gebäude in der Rue Calvin, wo wir etwas über die ökumenische Pionierarbeit für junge Erwachsene in den 1920er und 1930er Jahren erfahren. Von hier gehen wir in etwa 20 Minuten bis zur Route de Malagnou, wo wir den ÖRK in den Jahren seines bemerkenswerten Wachstums nach dem Krieg erleben. Der Besuch endet auf der anderen Seite des Genfer Sees in der Route de Ferney, wo wir in einer Predigt am 11. Juni 1965 erfahren, was eine neue Kapelle uns über die Berufung zur Einheit lehren kann. Los geht‘s.       

I. Das erste ökumenische Zentrum? Rue Jean-Calvin, Altstadt

In der Genfer Altstadt gibt es eine Rue Jean-Calvin. Sie wurde nach dem großen protestantischen Reformator benannt, der dort von 1543 bis zu seinem Tod 1564 gelebt hat. Von seiner Wohnung konnte Calvin in vier bis fünf Minuten die Kathedrale St. Peter erreichen, wo er an Sonntagen und oft auch während der zweiten Andacht um 6 Uhr am Nachmittag die Predigt hielt. Calvins Genf wurde schnell zum Zentrum einer internationalen Reformationsbewegung, die der Stadt bereits im 17. Jahrhundert den Titel „protestantisches Rom“ einbrachte.     

Das Haus des Reformators, der für die christliche Einheit bereit war, „zehn Meere zu durchqueren“, wurde im Jahre 1706 abgerissen, aber die nach seinem Namen benannte Straße sollte in den folgenden Jahrhunderten noch ein wichtiges Kapitel der Geschichte der Christenheit schreiben. 

Es ist dem damals 24 Jahre alten Genfer Evangelikalen Jean-Henry Dunant zu verdanken, dass die Genfer Gruppe des Christlichen Vereins junger Menschen (CVJM) im Jahre 1852 in der Rue Jean-Calvin 14 ein Zuhause fand. Dunant ging aber noch einen Schritt weiter und überzeugte den Pariser CVJM davon, im Jahre 1855 eine internationale CVJM-Konferenz auszurichten. Eines ihrer wichtigsten Ergebnisse war die Gründung des CVJM-Weltbundes, und es dürfte keine Überraschung sein, dass er 1878 nicht weit von einer altbekannten Adresse Quartier bezog ... der Rue Jean-Calvin.

Dunants Buch Erinnerungen an Solferino aus dem Jahr 1862 beschreibt das furchtbare Schicksal verwundeter Soldaten im Krieg und fordert deshalb organisierte Sanitätsdienste für die Versorgung dieser Menschen. Diese Erkenntnis hat 1863 zur Gründung des Internationalen Roten Kreuzes beigetragen (ich muss hinzufügen: der Sitz der Organisation befand sich natürlich in der Nähe der Rue Jean-Calvin) und führte zu internationalen Abkommen über die faire Behandlung von Kriegsopfern.

Das ist allerdings nur ein Teil der Geschichte der Rue Jean-Calvin. Nach dem Ersten Weltkrieg 1914–1918 hielt der CVJM-Weltbund Ausschau nach einem internationalen Sekretär für die Jugendarbeit in weiterführenden Schulen. Die Wahl fiel auf einen 23 Jahre alten niederländischen CVJM-Leiter, einen gewissen ... Willem Adolf Visser ‘t Hooft. Ende 1924 zogen die frisch verheirateten „Wim“ und Jetty nach Genf, das er als „das Mekka des neuen Internationalismus“ bezeichnete. Er konnte nicht ahnen, dass es ihm – wie der Rue Jean-Calvin – vorherbestimmt war, ein wichtiges Kapitel der Geschichte der ökumenischen Bewegung zu schreiben und er in der Stadt in Folge in drei verschiedenen ÖRK-Zentralen arbeiten sollte. 

Zum damaligen Zeitpunkt, als sich Visser ‘t Hooft in seinem CVJM-Büro in der Grand Rue 23 eingerichtet hatte, rief der Christliche Studenten-Weltbund (WSCF) den Internationalen Studentendienst (ISS) ins Leben. Der ISS entstand aus der legendären, nach dem Krieg unter dem Dach des WSCF gegründeten Europäischen Studentenhilfe, die die Theologin Ruth Rouse in ihrem 1925 erschienenen Buch Rebuilding Europe: The Students Chapter in Post-War Reconstruction (Der Wiederaufbau Europas: Das Studentenkapitel bei der Rekonstruktion nach dem Krieg) so lebhaft beschreibt. Viele Jahre später hat der Theologe Robin Boyd über die Studentenhilfe und den ISS geschrieben, dass sie „weltweit das erste vollständig ökumenische Hilfsprogramm“ waren. Darauf verweist der Untertitel seines Buchs über das Zeugnis der christlichen Studentenbewegung: „Church ahead the Church” (Kirche vor der Kirche). 

Sie vermuten ganz richtig, dass sich das Büro des Internationalen Studentendienstes ... in der Rue Jean-Calvin 13 befand. Auf die ersten Jahre im Kollegium des Ökumenischen Instituts blickt Suzanne de Diétrich in ihrem Buch Cinquante ans d’histoire: La Fédération universelle des associations chrétiennes d’étudiants (Fünfzig Jahre Geschichte: Der Allgemeine Dachverband der Vereinigung christlicher Studenten) in liebevoller Erinnerung zurück.  Das Büro des ISS sollte bis 1970 als Zentrale des WSCF dienen. Visser ’t Hooft kam 1929 zum WSCF und arbeitete dort zunächst als koordinierender Sekretär, um dann 1932 zum Generalsekretär befördert zu werden und dieses Amt bis 1938 zu bekleiden, als der „in Bildung begriffene“ Ökumenische Rat der Kirchen Anfang 1939 sein Quartier in Genf bezog und Wim zum Generalsekretär berufen wurde, geleitet von der Vision, die gespaltenen Kirchen zu bewegen, ihre gemeinsame Berufung zu erfüllen und damit in der Welt die eine Kirche zu manifestieren. 

Die Rue Jean-Calvin konnte in Frieden ruhen. Sie stand für die Eigenschaften, die die ökumenische Bewegung in ihren Grundfesten ausmacht – das Mitgefühl für die verletzlichsten Menschen als Kern der Mission des Roten Kreuzes und die Hingabe an die Idee einer Einheit der Christen, die für die drei entscheidenden Wegbereiter der Ökumene bestimmend waren: CVJM, WSCF und CVJF. 

II. Route de Malagnou: das zweite ökumenische Zentrum

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World Council of Churches in Malagnou, Geneva

Ökumenischer Rat der Kirchen in der Route de Malagnou, Genf, in den 1950er Jahren

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Als der ÖRK 1939 seine erste Zentrale als Mieter der Protestantischen Kirche Genfs im Chemin des Crêts-de-Champel 41 einweihte, war Genf bereits das wichtigste internationale Zentrum des Aufrufs an alle Christen und Kirchen geworden, gemeinsam unterwegs zu sein, zu arbeiten und zu beten. Das Europäische Zentralbüro für zwischenkirchliche Hilfe wurde 1992 in der Stadt Calvins unter der Leitung von Adolf Keller gegründet. Die Bewegung für praktisches Christentum (Life and Work Movement) und das Internationale Sozialwissenschaftliche Institut zogen 1928 in das Gebäude ein. Gleichzeitig verlagerte der Internationale Missionsrat seine Abteilung für Sozial- und Wirtschaftsforschung nach Genf. 1930 folgte der Weltbund der Christlichen Vereine Junger Frauen (YWCA), und die Weltkonferenz über Glauben und Kirchenverfassung eröffnete ein zweites Büro (das erste befand sich in Boston) in der Rue de Lausanne 57 in der Nähe des Genfer Hauptbahnhofs. Der Weltbund für Freundschaftsarbeit der Kirchen (Freundschaftsbund) und die Life and Work-Bewegung haben von 1931 bis 1937 das gleiche Gebäude genutzt, wahrscheinlich in der Rue de Pâquis 52. 

In den Kriegsjahren war die Solidarität über nationale, konfessionelle und sogar auch religiöse Grenzen hinweg keine freie Entscheidung mehr, sondern wurde zu einer Frage des Überlebens. Was Visser ‘t Hooft später als die während dieser Jahre erlebte „stärkere Intensität ökumenischer Überzeugung“ bezeichnen sollte, führte unvermeidlich zum weiteren Wachstum des ÖRK. Es wurde erforderlich, die Arbeit der Kirchen für Geflüchtete zu koordinieren und sie in der Entscheidung der Rolle der Kirche in der Kriegssituation zu unterstützen; und es wurde erforderlich, die Seelsorge und Betreuung der Kriegsgefangenen zu organisieren (40.000 Bibeln wurden verteilt!). Ebenfalls wurden erste Pläne für die Einsetzung einer Abteilung für Wiederaufbau und zwischenkirchliche Hilfe erarbeitet, und es erwies sich als angezeigt, Laien und Laiinnen in Führungspositionen in christlicher Lehre und christlich geprägtem Denken zu unterweisen, um einen Beitrag zum Wiederaufbau der Gesellschaften und der Einheit der Kirchen leisten zu können. Der LWB hatte 55 Mitgliedskirchen in Jahr 1939. 1945 waren es schon 90. Der Umzug in eine neue Zentrale war deshalb unvermeidbar. 

Wenn wir heute die Seiten des Protokolls der Tagung des Provisorischen ÖRK-Ausschusses im Jahre 1946 durchblättern, fällt auf, dass dort nicht vom „Ökumenischen Institut in Bossey“ die Rede ist, sondern vom „Ökumenischen Schulungszentrum“. In einem Brief an die Teilnehmenden hat der römisch-katholische Bischof von Freiburg ihnen versichert, „dass mein Gebet sich gemeinsam mit Ihrem Gebet erhebt, vereint mit dem Gebet Jesu Christi am Vorabend seiner Passion“. Was jedoch bei der Lektüre dieser Chronik die eigentliche Überraschung sein dürfte, ist die Adresse auf der Titelseite des Protokolls: „Ökumenischer Rat der Kirchen – Route de Malagnou 17.” 

In Jahr vorher hatte der ÖRK mit Unterstützung nordamerikanischer Kirchen im östlichen Teil von Genf in der Route de Malagnou 17 eine Villa im Chalet-Stil erworben, umgeben von einem großzügig angelegten Garten, der mit seinen großen Zypressen, Roteiben, Eichen und Zedern wie ein Park anmutet. Von seinem Büro im ersten Stock gegenüber dem Eingang hatte der Generalsekretär immer ein Auge auf seine Mitarbeitenden. Baldwin Sjollema erzählte Jurjen Zeilstra, dem wohl renommiertesten unter Visser ‘t Hoofts Biographen, dass der Chef einmal einen Mitarbeiter nach Hause geschickt hat, weil der an einem heißen Tag mit einer bayerischen Lederhose zur Arbeit erschienen war. 

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WCC headquarters Malagnou, 1954.

ÖRK-Zentrale in Malagnou, 1954

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Allerdings geriet der Rat bald erneut aufgrund seines anhaltenden Wachstums in Zugzwang. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg etablierten sich die Kommission der Kirchen für internationale Angelegenheiten; die Kommission für Glauben und Kirchenverfassung; die Jugendarbeit des ÖRK und die Sekretariate der beiden christlichen Weltgemeinschaften Lutherischer Weltbund und Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen in Malagnou. Dazu kam, dass die Räumlichkeiten für die Bibliothek als „inadäquat und unzureichend“ erachtet wurden, dass es keinen „ausreichend großen“ Tagungsraum gab, und dass die fehlende Kapelle „schon seit längerer Zeit als Problem erkannt worden war“ oder, um Bischof Henry Sherrill mit seinen direkten Worten zu zitieren, „als ein Skandal“ angesehen wurde.   

So musste sich der Rat wieder einmal mit dem Problem der zu kleinen Arbeitsräume auseinandersetzen. 1946 wurde das Grundstück Route de Malagnou 19 zusätzlich zur Nr.17 erworben. Es gab ebenfalls Versuche, die Häuser in der Route de Malagnou 19A bis 23 zu erwerben, aber die Eigentümer lehnten einen Verkauf ab. Auf der anderen Seite des Areals konnte ein paar Jahre später mit der Stadt Genf ein Vertrag über die Miete des Hauses Route de Malagnou 15 geschlossen werden. Das reichte aber immer noch nicht, und es musste improvisiert werden. 

Aus diesem Grund haben die Menschen, die damals am Ökumenischen Zentrum Malagnou vorbeigegangen sind, u. U. mit Verwunderung zur Kenntnis genommen, dass auf dem Gelände auch einige Militärbaracken standen. Die Erklärung ist, dass die Abteilung für Wiederaufbau und zwischenkirchliche Hilfe in den Nachkriegsjahren Gemeinden, deren Gebäude zerstört worden waren, dabei unterstützt hat, so schnell wie möglich wieder Andachten feiern zu können. Eine provisorische Lösung bestand darin, ihnen „Holzkirchen“ anzubieten, die in der Schweiz und teilweise auch in Schweden hergestellt wurden. Bis 1946 waren 48 Holzkirchen geliefert worden, und weitere 27 befanden sich noch in der Produktion. Die Fertigungskosten beliefen sich auf durchschnittlich 25 000 Schweizer Franken. Einige der Holzbaracken der Schweizer Armee landeten schließlich in der Route de Malagnou und wurden so umgebaut, dass sie als Büros nutzbar waren. Noch bis 1962 wurde darüber diskutiert, ein zusätzliches Stockwerk auf die Baracken zu setzen, um mehr Arbeitsfläche nutzen zu können. 

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Barracks at route de Malagnou, August 1964

Holzbaracken in der Route de Malagnou, August 1964.

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Mitte der 1950er Jahre wurde es offensichtlich, dass die weiteren Expansionsmöglichkeiten des ÖRK in Malagnou ausgeschöpft waren und dass der Rat das ewige Problem, ein ausreichend großes Gebäude für eine Mitarbeiterzahl von ca. 200 Personen zu finden, auf eine andere Weise würde lösen müssen. Der ÖRK wandte sich deshalb an die Stadtverwaltung und die kantonale Verwaltung. In einem Schreiben vom 4. Februar 1958 hat die Stadt Genf dem ÖRK offiziell einen einfachen Tauschvorschlag unterbreitet: ein Grundstück von 34 000 Quadratmetern im Herzen des internationalen Genfs gegen die Grundstücke von Malagnou mit einer Fläche von 8 000 Quadratmetern. Auf der Augusttagung des ÖRK-Exekutivausschusses wurde dieses großzügige Tauschangebot angenommen. Der Stadtrat von Genf hat den Tausch im Februar 1959 einstimmig genehmigt und gewährte dem ÖRK eine dreijährige mietfreie Nutzung von Malagnou bis zum 1. Juni 1962 

III. Route de Ferney: das dritte ökumenische Zentrum

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Ecumenical center 1970

Das Ökumenische Zentrum 1970.

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Wie soll man die 2,5 Millionen Dollar beschaffen, die für den Bau eines komplett neuen ökumenischen Zentrums erforderlich sind? Auch in diesem Fall hat sich der ÖRK zuerst an die amerikanischen Kirchen gewandt und um Anleitung und Unterstützung gebeten. Ein Mitglied des ÖRK-Präsidiums, der scheidende Leitende Bischof der Episkopalkirche in den USA, Henry Knox Sherrill, wurde zum Vorsitzenden des Appeal Committees ernannt, während der Presbyterianer Eugene Carson Blake, der später die Nachfolge von Visser ‘t Hooft antreten sollte, zum Leiter des Standortausschusses berufen wurde. Geld- und Sachspenden gingen von zahlreichen Mitgliedskirchen auf der ganzen Welt ein. Anfang 1959 verfügte der Fonds für den Bau des neuen Zentrums bereits über eine Million Dollar, im August dieses Jahres waren es bereits 1,5 Millionen, 1,6 Millionen im Jahr 1969, 2,2 Millionen 1961 und 2,5 Millionen 1962. Da die tatsächlichen Baukosten aber immer erst a posterio (als im Nachhinein) zuverlässig ermittelt werden können, gab es eine zusätzliche Aktion, um weitere 350.000 Dollar einzusammeln. 

Die ersten Pläne und Modelle für das neue ökumenische Zentrum, entworfen von den Architekten Senn und Lesemann, wurden dem Exekutivausschuss im August 1958 vorgelegt. Von Anfang an fanden die großen architektonischen Linien bei den Ausschüssen und Leitungsorganen weitgehende Zustimmung. The Ecumenical Review veröffentlichte 1962 eine klare und präzise Beschreibung der künftigen Gebäude in der Route de Ferney 150: „Es wird drei Gebäudeflügel mit Büros geben, die von einem flacheren zentralen Gebäude ausgehen. Darin befinden sich die Kapelle, der Konferenzsaal, die Eingangshalle und die Ausstellungsflächen, die Räume für die Ausschüsse und die Büros des Generalsekretariats.“ Die Bibliothek und die Archive, unverzichtbare Insignien des ÖRK als wissensorientierter Organisation, sollten ihr eigenes Gebäude bekommen. Die große Konferenzhalle war ein Geschenk des Amerikaners Clarence Dillon, und das tonnenweise verarbeitete Mahagoni für die Wandverkleidungen der Halle und einiger Tagungsräume war ein außergewöhnliches Geschenk von Mitgliedskirchen in Ghana. Auch der Wunsch nach einer Kapelle in Malagnou sollte sich endlich erfüllen. Allerdings stellte sich dies als nicht so einfach heraus.  

Welches Maß an Uneinigkeit ist zu erwarten, wenn ein Architekt einen Gebetsraum entwerfen soll, dem die Quadratur des Kreises gelingen und der den Erwartungen völlig unterschiedlicher christlicher Traditionen gerecht werden soll? Beträchtliche Kontroversen gab es schon bei der Vorlage der Pläne für die Kapelle im Jahre 1959. Nachfolgend beschreibe ich in einer kurzen Zusammenfassung die über zwei Jahre teilweise anhaltend geführten Debatten. 

Als die Architekten im Februar 1959 dem Exekutivausschuss die überarbeiteten Pläne für das ökumenische Zentrum vorstellten, „ging es in der Diskussion in erster Linie um den Plan für der Kapelle.“ Herr Senn signalisierte seine Bereitschaft, seinen ersten Vorschlag über eine rechteckige Kapelle mit einer Dachkonstruktion zu revidieren. Diskutiert wurde auch die Möglichkeit einer achteckigen Kapelle oder eines Turms oder einer Turmspitze. Sein Vorschlag, einen Altar mit einer Kanzel dahinter in den Mittelpunkt der Kapelle zu stellen, wurde verworfen, da „eine solche Anordnung für bestimmte Glaubenstraditionen nicht annehmbar wäre.“ 

Die endgültigen Pläne sollten nach Vorgabe des Standortausschusses „in ausreichend harmonischer Weise den unterschiedlichen Traditionen, liturgischen Praktiken und Überzeugungen der Mitgliedskirchen entsprechen.“ Eine Beratung mit Theologie- und Liturgiefachleuten wurde empfohlen. Im August 1959 informierte Carson Blake den Exekutivausschuss darüber, dass die überarbeiteten Pläne für die zukünftigen Gebäude „in hohem Maße zufriedenstellend“ seien. Die einzige Ausnahme: die Kapelle. Mitglieder des Exekutivausschusses wurden eingeladen, die von Herrn Senn vorgelegten „Modelle zweier alternativer Entwurfsvorschläge für die Kapelle“ sorgfältig zu prüfen. 

Auf der Tagung des Exekutivausschusses im Februar 1960 fanden die von Herrn Senn überarbeiteten Pläne Zustimmung – inzwischen wurden allerdings wieder neue Forderungen gestellt. An einer der Außenwände der Kapelle sollte ein „Symbol in Anlehnung an das Logo des Ökumenischen Rates der Kirchen“ angebracht werden. Auch die Pläne des Architekten für den Innenraum der Kapelle fanden keine ungeteilte Zustimmung. Herr Senn wurde gebeten, auf die vorgeschlagenen Emporen an zwei Wänden zu verzichten. Sein Vorschlag über einen Glockenturm am Eingang des Geländes wurde ebenfalls nicht angenommen. Im August berichtete der Standortausschuss, dass „Herr Senn keine Bereitschaft gezeigt hat, die vom Zentralausschuss 1959 festgelegten Vorgaben für die Änderungen des Plans der Kapelle zu beachten.“ Das führte zur Beendigung seines Vertrags mit dem Rat. 

Anfang 1961 wurden die jetzt endgültigen Pläne für die Gebäude und die Kapelle dem Standortausschuss von Herrn Lesemann und dem neu beauftragten Architekten J.-J. Honegger vorgelegt, der „vier mögliche Perspektiven für die Gestaltung der Kapelle“ vorschlug. Der Exekutivausschuss hat die revidierten Pläne genehmigt. Die einzige Ausnahme: die Kapelle.

Der Ausschuss instruierte Honegger, seine Arbeit fortzusetzen und dabei neue Empfehlungen zu berücksichtigen: die Verwendung von Glaselementen in der Südostmauer und die Ergänzung des Architektenteams um einen skandinavischen Architekten „mit anerkannter Reputation“. Der im Juni 1961 vorgelegte Entwurf der Kapelle wurde schließlich genehmigt.  Während der letzten Diskussionsrunde beschwerte sich die Anglikanerin Kathleen Bliss, dass „der Entwurf dem Dienst am Wort anscheinend einen höheren Stellenwert gibt als dem Dienst am Sakrament.“ Der Orthodoxe Nikos Nissiotis, damals Dozent am Ökumenischen Institut in Bossey, stimmte mit Bliss überein, dass „die Kanzel in unangemessener Weise hervorgehoben wird.“ Seiner Ansicht nach sei aber die Tatsache zufriedenstellend, dass „die Kapelle keiner speziellen liturgischen Tradition entspricht.“

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Ecumenical center chapel under construction

Kapelle des Ökumenischen Zentrums in Bau.

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Die Arbeiten in der Route de Ferney begannen im Juni 1961. Dem Schweizer reformierten Theologen Jean-Louis Leuba wird das Bonmot zugeschrieben, dass die in der Route de Ferney vergossenen großen Betonmengen wohl bedeuteten, dass die ökumenische Bewegung nicht daran glaube, dass die sichtbare Einheit in absehbarer Zeit erreicht werde. Im Frühjahr 1964 war es dann soweit: Das Personal in Malagnou begann, sich vom Grün der Zypressen, Roteiben, Eichen und Zedern zu verabschieden. Die Bäume stehen dort immer noch auf dem Grundstück derselben alten Villen und warten auf Ihren Besuch. 

Die neuen Büros wurden im April 1964 bezogen. In den folgenden Jahren war das Ökumenische Zentrum auch die Adresse verschiedener Weltgemeinschaften und ökumenischer Organisationen, darunter die orthodoxen Patriarchate von Konstantinopel und Moskau, deren Geschäftsstellen heute im ersten Stockwerk nebeneinander liegen, und der Weltrat Methodistischer Kirchen. Das ökumenische Zentrum war auf dem besten Weg, ein deutlich sichtbares Zeichen für eine Katholizität zu werden, die die 4. Vollversammlung des ÖRK in Uppsala „als das Gegenteil jeder Form von Egoismus und Partikularismus“ beschrieben hat.   

Das Ökumenische Zentrum wurde offiziell am 11. Juli 1965 eingeweiht, dem ersten Tag einer Sitzung des Exekutivausschusses. Eine Andacht wurde in der Kapelle gehalten, deren Ausstattung als Metapher der ökumenischen Bewegung und des Austausches von Gaben gedacht war. 

Ein in die Jahre gekommener Visser ‘t Hooft stieg die zwei zur Kanzel führenden Stufen hinauf und hielt eine seiner letzten Predigten als ÖRK-Generalsekretär, und die Frage bleibt offen, ob ihn wohl gemischte, widersprüchliche Gefühle ergriffen haben.  Es ist an der Zeit, sich für die während der Einweihung aufgezeigten Zukunftsperspektiven zu bedanken. Für Visser ‘t Hooft war dies auch ein Anlass, auf 40 lange Jahre ökumenischen Dienst in Genf zurückzuschauen. Niemand sonst hat der ökumenischen Bewegung so beständig in der Rue Jean-Calvin, im Chemin des crêts-de-Champel, in der Route de Malagnou und jetzt in der Route de Ferney gedient. Visser ‘t Hooft wird am 20. September 1965 seinen 65. Geburtstag feiern und kurz danach in den Ruhestand gehen. So werden wir uns unserer Endlichkeit bewusst.

Visser ‘t Hoofts Predigt, die ich in der Folge zusammenfassen möchte, erinnerte mich an die grundlegenden Erkenntnisse seiner Vorlesungen 1957 in Yale und wie sie die weitere Ausbreitung der theologischen Basis 1961 bestimmt haben. Im September 1957 hatte Visser ‘t Hooft die Gelegenheit, eine Reihe von Vorlesungen an der Yale Divinity School in den USA zu halten, um seine Vorstellung von der Theologie der ökumenischen Bewegung darzustellen. Deren Aufgabe sollte darin bestehen, eine Anleitung für das „ökumenische Interim“ zu geben, für „diese Übergangszeit, in der wir uns nicht weiter voneinander abschotten können und erkennen, dass wir zusammenstehen müssen, aber noch nicht in der Lage sind, eine volle Gemeinschaft miteinander einzugehen.“ Im Kern gehe es darum, so Visser ‘t Hooft, „zu entdecken, wie die christliche Einheit aus der Einheit wächst, die bereits in der Einheit existiert und von der das Neue Testament spricht.“ Die Einheit der Kirche „ist die notwendige Folge ihrer Berufung.“ Die Einheit derjenigen, die einem gemeinsamen Ruf folgen, wächst in dem Maße, wie sie ihre Berufung leben, „Zeugnis abzulegen, zu dienen und eine Gemeinschaft zu bilden.“ Die Einheit wächst, wenn die Kirchen gemeinsam versuchen, Kirche zu sein. Die Yale-Vorlesungen wurden 1959 unter dem Titel The Pressure of Our Common Calling veröffentlicht. 

Der Gedanke, dass die Einheit in dem Maße wächst, in dem die gespaltenen Kirchen zusammen versuchen, ihrer gemeinsamen Berufung zu folgen, kam erneut in dem Jahr zur Sprache, als Mitarbeitende des ÖRK im Vorfeld der Aufnahme der orthodoxen Kirchen aus Osteuropa nach Russland gereist waren. 

Während eines Frühstücks mit dem russischen Kirchenhistoriker Vitali Borowoj und mit Nikos Nissiotis war das Gesprächsthema, wie die theologische Grundlage des ÖRK im Sinne eines stärkeren Trinitarismus erweitert werden könnte. Einer plötzlichen Eingebung folgend, schrieb Visser ‘t Hooft auf die Rückseite der Speisekarte des Hotels: „Der Ökumenische Rat der Kirchen ist eine Gemeinschaft von Kirchen, die an Jesus Christus, unseren Gott und Erlöser glauben und die unter der Führung des Heiligen Geistes danach streben, ihre gemeinsame Berufung zu erfüllen, um ihre Einheit als Kinder unseres himmlischen Vaters zu manifestieren.“ Zwei Jahre später sollte die 3. ÖRK-Vollversammlung 1961 den ersten Artikel der ÖRK-Satzung wie folgt ändern: „Der Ökumenische Rat der Kirchen ist eine Gemeinschaft von Kirchen, die den Herrn Jesus Christus gemäß der Heiligen Schrift als Gott und Heiland bekennen und darum gemeinsam zu erfüllen trachten, wozu sie berufen sind, zur Ehre Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.“   

Diese fundamentale Einsicht in die ökumenische Theologie Visser ‘t Hoofts, inzwischen ein konstitutives und konstitutionelles Element des Selbstverständnisses des ÖRK, war der hermeneutische Schlüssel seiner Predigt am Einweihungstag des Ökumenischen Zentrums. Seine Predigt bezog er auf ein Abschiedswort in Kolosser 4,17: „Und sagt dem Archippus: ‚Sieh auf das Amt, das du empfangen hast in dem Herrn, dass du es ausfüllst!‘“   

Alles, was in diesen Gebäuden geschieht, so stellte er zu Beginn fest, „muss durch das Gespräch mit Gott erhalten, genährt und inspiriert werden“, das in der Kapelle stattfinden wird. Aus diesem Grund „wurde diese Kapelle nicht als separates Gebäude geplant.“ Wenn wir den Zweck betrachten, für den diese Kapelle gebaut wurde, „werden wir in der Lage sein, die Bedeutung unserer gesamten ökumenischen Aufgabe besser zu verstehen.“ 

Was ist dieser Zweck? Wie Archippus ist jeder Christ und jede Christin eine Dienerin mit einem Amt und einem Dienst. Diese Kapelle wird uns an „diese tiefe Wahrheit erinnern.“ In dieser Kapelle wird Gott uns beständig an unsere Berufung zum Dienen erinnern, indem er uns fragt: „Was machst du mit deinem Leben, das ich dir gegeben habe, und mit der Bestimmung, die ich für dich vorgesehen habe? 

Die Kapelle des Ökumenischen Zentrums „hat aber noch eine tiefere Bedeutung.“ Die Menschen, die diese Kapelle besuchen, „kommen aus allen Ländern und vielen verschiedenen Kirchen“, aber sie haben ein gemeinsames Amt. Welches Amt ist gemeint? Im Kolosserbrief finden wir die Antwort: „Das Amt, das du empfangen hast im Herrn.“ Die gemeinsame Aufgabe, die wir erfüllen müssen, „ist keine Aufgabe, die wir selbst erfunden haben.“ Sie besteht darin, die Herde des großen Hirten zu versammeln. Da wir diese Aufgabe schnell vergessen könnten, müssen wir immer wieder diese Kapelle besuchen. 

Unser gemeinsames Amt ist „ein Amt im Herrn.“ Das bedeutet, dass all unsere hartnäckigen Meinungsverschiedenheiten trotzdem „Auseinandersetzungen innerhalb einer Familie sind, die nur ein Oberhaupt hat.“ Wenn uns die Tatsache den Mut nimmt, dass wir keine vollständige Einheit haben, „müssen wir hier in dieser Kapelle erkennen, dass wir bereits jetzt miteinander verbunden sind, denn wir gehören alle demselben Herrn.“ In dieser Kapelle „werden wir uns gut aufgehoben fühlen inmitten all dieser Männer und Frauen, die zu diesem Leib gehören.“ Ihre Gebete werden uns tragen, und wir werden für jede einzelne Kirche Fürbitten einlegen und danach streben, uns mit ihren Freuden und ihrem Leid gemein zu machen.“   

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Brugger garden

Brugger-Garten im Ökumenischen Zentrum

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